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Dunkle Gewaesser

Dunkle Gewaesser

Titel: Dunkle Gewaesser
Autoren: Joe R. Lansdale
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waren. Die Schaluppe war mit einem geflochtenen Tau an dem Stumpf festgebunden, das von Zeit zu Zeit von jemandem ersetzt wurde, dem der Sinn danach stand und der ein weniger verwittertes Seil zur Hand hatte. Dort, wo die Schaluppe lag, war der Fluss ziemlich breit. Auf der Schaluppe war für eine ganze Menge Leute Platz, und keiner wusste mehr so genau, wer sie vor langer Zeit dort zurückgelassen hatte. Jedenfalls war sie äußerst massiv gebaut, und das Holz hatte noch nicht angefangen zu faulen – die Unterseite der Stämme und Planken war mit Teeröl bestrichen. Alle benutzten sie, und seit zehn Jahren hatte sie niemand mehr von der Stelle bewegt. Kein Unwetter und kein Hochwasser konnten sie auseinanderreißen, nicht mal dann, wenn das Wasser über das Tau anstieg, mit dem sie festgebunden war. Manchmal, wenn der Fluss richtig viel Wasser führte, tauchte das Heck unter, und der Bug ragte ein ganzes Stück aus dem Wasser. Hinterher war dann alles wieder so, als wäre nichts passiert. Manchmal, wenn ich am Fluss entlangging, hockten Frösche drauf, und lange Wasserschlangen mit gelben Bäuchen und Mokassinottern krochen drüber hinweg; richtig fies sahen die aus, als wollten sie einen jeden Moment beißen.
    Wer immer als Erster dort hinkam, benutzte das Floß, um zu picknicken, zu angeln und zu schwimmen. Nachts zogen Rabauken da ihre kurzen Hosen aus und badeten nackt. Es heißt auch, dort wären auf Decken nicht wenige Kinder gezeugt worden, in tiefster Nacht, während der Mond das Wasser in sein silbernes Licht tauchte. Das glaub ich gern.
    In der Nähe der Schaluppe ertrank immer mal wieder jemand, und die Leute hatten darüber geredet, sie anzuzünden, damit keinermehr zu ihr rausschwimmt. Aber das würde die Menschen nicht daran hindern, ins Wasser zu gehen und zu ertrinken, und dazu brauchten sie keine Schaluppe. Manche taten es sogar absichtlich, wie May Lynns Mutter. Allerdings musste man sich dabei nicht unbedingt ein Hemd um den Kopf wickeln – das blieb jedem selbst überlassen.
    Wir schöpften Wasser und paddelten mit dem Boot den Fluss runter, bis wir die Schaluppe erreicht hatten. Außer Schatten war da nichts und niemand.
    Also kletterten wir aus dem Boot und auf die Schaluppe und zogen das Boot hinter uns rauf. Das war harte Arbeit, aber wir schafften es. Unter dem Blätterdach des Astes setzten wir uns hin, und Terry schlug das Tagebuch auf. Einige Seiten waren rausgerissen, und die Ränder waren vollgekritzelt. Terry fing an vorzulesen. Es war nicht so geschrieben, wie sie redete; stattdessen hatte sie versucht, sich möglichst korrekt auszudrücken. Mich stimmte das traurig. Es stand viel Wahres drin, aber auch einiges, was vielleicht gar nicht passiert war, von dem May Lynn aber fest glaubte, dass es passieren würde. Von wegen, dass sie nach Hollywood gehen würde, und in irgendeinem Café würde jemand sie entdecken und einen Star aus ihr machen. Sie erzählte das, als wäre es tatsächlich geschehen, dabei wusste ich es besser. Sie war nie aus Osttexas rausgekommen, geschweige denn nach Hollywood.
    Über uns redete sie nur beiläufig, ungefähr so, wie man erzählen würde, dass man gestern einen seltenen Vogel gesehen hat. Das ärgerte mich ehrlich gesagt ein wenig. Ich fand, wir hatten mehr verdient, als nur die paar Mal erwähnt zu werden. Immerhin waren wir zu ihrer Beerdigung gegangen und wollten sie verbrennen und nach Hollywood bringen, und sie schenkte uns fast keine Beachtung. Wir hätten in ihrer Lebensgeschichte eindeutig eine größere Rolle spielen müssen, selbst wenn viel davon nur erfunden war.
    Die Schatten wurden größer und größer, als Terry schließlich zu der Stelle kam, die unsere ganzen Pläne, alles, worüber wir geredet hatten, Wirklichkeit werden ließ. Innerlich musste ich weinen, und ich hatte ein wenig Angst, auch wenn ich nicht weiß, warum. Jedenfalls stand nun unverrückbar fest, dass wir nach Hollywood gehen würden. Was Terry da vorlas, veränderte unser Leben ein für alle Mal, und nichts würde jemals wieder sein, wie es war.
    Auf ein oder zwei Seiten erzählte sie von ihrem Bruder, und dazwischen steckte eine Fotografie von ihr. Eine ziemlich gute, aber so ein Bild konnte nicht einfangen, wie sie wirklich war; selbst in dem alten, verblassten Kleid mit dem Blumenmuster sah sie umwerfend aus. Und da steckte noch was zwischen den Seiten, eine kleine Landkarte, auf dünnes Papier gezeichnet. Diese Karte, zusammen mit dem, was wir in dem Tagebuch
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