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Dunkle Beruehrung

Dunkle Beruehrung

Titel: Dunkle Beruehrung
Autoren: Lynn Viehl
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ihres Vaters lächelte ihr aus dem Zwielicht ihrer Erinnerungen zu.
Braves Mädchen
.
    Sie blies etwas Dampf von ihrer Tasse und trank von dem süßen Milchkaffee, den sie sich gekocht hatte. Geraldine hatte besseren Kaffee gemacht, doch nach Dariens Tod hatte die alte Köchin sich schließlich doch in den Ruhestand verabschiedet, um auf ihre alten Tage mit ihrem Mann, den sechs Kindern und siebenundzwanzig Enkeln auf Tybee Island zu leben. Min gönnte ihr das, vermisste sie aber sehr.
    Bald musste sie ins Haus gehen und sich für die Arbeit zurechtmachen. Schon am Vorabend hatte sie ausgewählt, was sie heute tragen würde – ihr marineblaues Lieblingskostüm mit einer schneeweißen maßgeschneiderten Bluse –, aber sie wollte für Frisur und Make-up eine Stunde Zeit haben.
    Du kannst nicht alles im Eiltempo erledigen, Süße
, hatte Geraldine stets gesagt, wenn Min sich beklagt hatte, wie viel Zeit es kostete, ihr langes Haar zu kämmen und zu flechten.
Eine junge Dame muss sich Zeit nehmen, um immer so elegant und entzückend auszusehen wie ein Pfirsich
.
    Mit der Zeit hatte Min ihre Ungeduld gezähmt, und inzwischen bereitete sie immer alles sorgfältig vor. Letzte Woche hatte sie ihr langes mädchenhaftes Haar skrupellos zugunsten einer modischeren, asymmetrischen Frisur abschneiden lassen. Noch immer hatte sie sich nicht daran gewöhnt, das Gewicht ihres Haars nicht mehr zu spüren, doch das elegantere Aussehen gefiel ihr.
    Nach längerer Beratung hatte Min sich im Frisiersalon auch die Brauen trimmen und die Nägel mit einer klassisch zurückhaltenden French Manicure in Form bringen lassen. Und sie hatte zig Parfüms ausprobiert, ehe sie sich für einen dezenten Duft entschied, der an den Geruch der Luft nach einem Regen erinnerte. Ihre letzte – und teuerste – Ausgabe war ein Paar dekadent bequeme italienische Lederpumps gewesen, die genau zum Kostüm passten.
    Obwohl sie sich mit dem Herrichten viel Mühe gab, machte Min sich keine Illusionen über ihr Aussehen. Ein geneigter Betrachter würde ihr schwarzes Haar und die vollen Lippen bemerkenswert finden, doch ihr blasser Teint hatte ihr seit der Grundschule den Spitznamen »Schneeweißchen« eingetragen. Ihre schmale Nase, die kantigen Wangenknochen und die markante Linie ihres Kiefers sorgten dafür, dass sie nie als so schön empfunden wurde wie eine Disney-Prinzessin, und das bedauerte sie mitunter. Fremde hielten sie oft für zehn Jahre älter, als sie war, und das setzte sie bisweilen zu ihrem Vorteil ein.
    Ihre Augen ärgerten sie am meisten. Schöne Augen waren ein lebenslanger Vorteil, und welches Mädchen wünscht sie sich nicht groß und blau? Mins dagegen waren zwar durchaus groß und strahlend, doch das Blau der Iris war so hell, dass es weniger an den Himmel erinnerte als an die Wolken darin. Und weil sie so sehr ins Graue hinüberspielten, schien es den meisten Leuten unbehaglich zu sein, ihr in die Augen zu sehen. Immerhin nahm wenigstens ihr Freund offenbar keinen Anstoß daran.
    »Du stammst wahrscheinlich zum Teil von Aliens ab, Süße«, neckte Tag sie gern, um ihre finstere Miene dann mit Küssen zum Verschwinden zu bringen. »Aber ich bin immer zu einer gefährlichen Begegnung mit dir bereit.«
    Min wusste, dass ihre Andersartigkeit nützlich sein konnte. Zu den vielen Dingen, die sie während ihrer Schulzeit in Europa gelernt hatte, gehörte, ihre Individualität zu schätzen und sie eher zu unterstreichen, als sie zu verbergen. Die französischen Studentinnen an der Hochschule hatten ihr die besten Farben und Stile gezeigt, um ihre schlanke, groß gewachsene Gestalt und den blassen Teint zur Geltung zu bringen, während die italienischen Mädchen sie mit ihrer Begeisterung für schöne Taschen und Schuhe infiziert hatten. Sogar die so mürrischen wie heißblütigen Spanierinnen hatten ihr einen Intensivkurs darin gegeben, den Eindruck cooler, geheimnisvoller Distanz zu erwecken.
    »Wenn reiche Männer dich mögen sollen, musst du sie anlächeln«, hatte Juanita, die Tochter eines Bankiers aus Madrid, ihr geraten. »Wenn sie dir
zuhören
sollen, darfst du das nicht tun.«
    Als die Sonne über den Baumkronen auftauchte, trank Min ihren Kaffee aus und ging hinein, um sich anzuziehen. Der meiste Schmuck, den ihr Vater ihr vererbt hatte, war zu alt und überladen, als dass sie ihn hätte tragen können, doch spontan steckte sie sich eine zarte Kamee aus Elfenbein und Lapislazuli ans Revers, die ihr Vater ihr zum letzten Geburtstag
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