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Dunkle Beruehrung

Dunkle Beruehrung

Titel: Dunkle Beruehrung
Autoren: Lynn Viehl
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berühmten Mr Genaro.« Finley lachte leise und tätschelte ihre Schulter. »Eine zweitausend Jahre alte, tadellose römische Papyrusrolle ist natürlich ein schätzenswertes Kleinod, aber er wird schon nicht daran zugrunde gehen, dass jemand es ihm weggekauft hat.«
    29. September 1998
    Minerva stand früh auf, um den Sonnenaufgang zu beobachten, und ließ sich auf dem vorderen Balkon von Sapphire House nieder, als die Lichter der Stadt noch in warmem Gold vor der dunklen Seidendecke glommen, die die Nacht über Savannah gebreitet hatte. Oft sah sie den Tag von diesem Platz aus heraufziehen, sehr zum Ärger der Nachbarn, die der Ansicht waren, dass sich nur jene Frauen vor Mittag aus dem Bett erhoben, die für diejenigen kochten und putzten, die das nicht nötig hatten.
    Heute den Sonnenaufgang zu sehen, war wichtig für Min. Sie wollte, dass dieser besondere Tag den richtigen Anfang nahm: der erste Tag an ihrem neuen Arbeitsplatz, der erste Schritt in eine sichere Zukunft.
    »Ich habe die Stelle bekommen, Dad«, sagte sie und prostete mit der Kaffeetasse dem Brunnen unten auf dem Platz zu. »Heute fange ich an. Wünsch mir Glück.«
    Das hätte Darien sicher getan, wäre er noch am Leben gewesen. Drei Monate und sechs Tage zuvor aber war Mins Vater, als er im Hof schlummernd im Sonnenschein saß, friedlich entschlafen. Sie hatte ihn zum Abendessen wecken wollen und ihn reglos vorgefunden. Seine dunklen Augen waren geschlossen, sein weißes Haar windzerzaust, und er hielt
Ein Yankee am Hof des Königs Artus
in Händen, als könnte selbst der Tod ihn nicht von seinem geliebten Mark Twain trennen.
    Noch lange danach hatte Mins Trauer ihr alles nur wie graue Fassaden dessen, was einmal gewesen war, erscheinen lassen. Doch allmählich hatte der furchtbare Schmerz etwas nachgelassen, und inzwischen sah sie Dariens Tod nicht mehr nur als Verlust. Ihr Vater war gestorben, wie er gelebt hatte: ruhig, würdevoll und an einem Ort, den er geliebt hatte. Wenn Min nun über den Hof ging, hatte sie stets das Gefühl, er sei noch da, beobachte sie und lächle ein wenig.
    Das alles gehört nun dir, mein kleines Mädchen
, hatte er in dem Brief geschrieben, den sein Anwalt ihr nach der Beerdigung übergeben hatte – genau wie Dariens gesamtes Anwesen.
Kümmere dich gut darum und pass auf dich auf
.
    Dass Mins Vater ihr eines der ältesten und historisch bedeutsamsten Privathäuser von Savannah hinterlassen hatte, darüber waren viele empört und wenige überrascht. Im Laufe der letzten vierzig Jahre hatte Darien Hunderte großzügige Kaufangebote für Sapphire House glatt ausgeschlagen, und nicht mal stinkreiche Museumsleute – alles selbstgerechte Fratzen, wie er sie nannte – hatten ihn überreden können, das Anwesen ihren begehrlichen Händen zu überlassen.
    »Dieses Mädchen ist erst dreiundzwanzig«, hatte die Vorsitzende des Frauengeschichtsvereins von Savannah jüngst beim monatlichen Mittagessen nach dem vierten Sekt mit Orangensaft geklagt. »Ich habe Handtaschen, die älter sind.«
    »Ich weiß nicht, was Darien sich dabei gedacht hat.« Ihre Vertreterin tupfte mit einem feinen Spitzentaschentuch die Schweißtropfen zwischen ihren großen Nasenlöchern und der schmalen Oberlippe weg. »Sie hat nie zu uns gehört. Die verkauft das Haus an den erstbesten Yankee, der mit einer Reisetasche voller Geld und mit Plänen für ein Parkhaus auftaucht, das garantiere ich euch.«
    Man konnte den Damen diese Mutmaßungen nicht verübeln. Niemand wusste viel über Min – nur dass Darien sie von der Gesellschaft abgeschirmt und zur Ausbildung nach Übersee geschickt hatte. Sie hatten sich nie die Mühe gemacht, sie kennenzulernen, denn sonst hätten sie begriffen, wie sehr Min Sapphire House mochte und wie viel sie auf sich zu nehmen bereit war, um sich um dessen Unterhalt zu kümmern.
    Über die dunkelgrünen, taubenetzten Eisenblätter des schmalen Balkons hinweg sah sie, wie erste Sonnenstrahlen die Fenster aus dickem, blasigem Glas im zweiten Obergeschoss vergoldeten. Die alten Eichenfensterläden vor dem in Rosa gehaltenen Schlafzimmer mussten erneuert werden – darüber hatte sie mit Thomas Gaudette zu reden, wenn sie ihn das nächste Mal in der Kirche sah. Er erledigte alle Reparaturen rund um den Vorplatz und wusste, wie sich zwei Fensterläden finden oder anfertigen ließen, die genauso aussahen wie die übrigen sechsundvierzig – und das, ohne ihr dafür das Fell über die Ohren zu ziehen.
    Das verwitterte Gesicht
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