Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dunkle Beruehrung

Dunkle Beruehrung

Titel: Dunkle Beruehrung
Autoren: Lynn Viehl
Vom Netzwerk:
sie mit traurigem Blick. Sie konnte sich nicht vorstellen, Sapphire House an Fremde zu verkaufen, denen es nur um die prestigeträchtige Adresse und den Wiederverkaufswert des Anwesens ging.
    »Ich habe wohl weit mehr in dieses Haus investiert, als ich es hätte tun sollen, und so wie die Wirtschaft sich entwickelt, reichen meine Rücklagen nur noch wenige Jahre«, hatte der alte Darien zu ihr gesagt. »Wenn du das Haus nach meinem Tod halten willst, musst du dir einen vermögenden Mann angeln.«
    Min hatte etwas Besseres als einen reichen Schönling: ihre Ahnungen. Das hatte begonnen, als sie etwa dreizehn, vierzehn Jahre alt gewesen war, mit seltsamen, willkürlichen Gedankenblitzen. Sie hatte keinen Schimmer, wie das geschah oder warum; mitunter überkam sie plötzlich und ohne Vorankündigung ein Gefühl, und dann wusste sie es einfach, als hätte sie schon erlebt, was noch nicht eingetreten war.
    Das hätte sie womöglich beunruhigt, hätten die Ahnungen mit unheimlichen Dingen zu tun gehabt, doch sie galten stets glücklichen Ereignissen. So war ihr zum Beispiel schon vor einer Prüfung klar gewesen, dass sie mit Bestnote bestehen würde, oder sie hatte es vorab gespürt, wenn Darien ihr per Post ein Geschenk sandte. An der Universität hatte sie dann für eine Hausarbeit in Volkswirtschaftslehre die Bewegungen an der Börse verfolgt und festgestellt, dass ihre Ahnungen ihr auch erlaubten, positive Trends am Markt mit nahezu fehlerfreier Präzision vorherzusehen.
    Ihrem Vater hatte sie von dieser Fähigkeit nie erzählt. Darien war strenggläubiger Katholik gewesen und hatte derlei für Teufelswerk gehalten. Doch Min empfand ihre Vorahnungen als eine Gabe, die ihr – solange sie nur Stillschweigen darüber bewahrte – erlauben würde, zu heiraten, wen sie wollte, ein angenehmes Leben zu führen und sich gut um Sapphire House zu kümmern.
    Alles, was sie wirklich brauchte, war ein Arbeitsplatz, an dem sie lernen würde, was sie über den Markt noch nicht wusste, und diese Stellung hatte sie gefunden: In wenigen Stunden würde sie als Vorzimmerdame und persönliche Assistentin des stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden einer der erfolgreichsten Investmentfirmen von Savannah anfangen und die Berufserfahrung sammeln, die sie brauchte, um ihre eigenen Geldmittel an der Börse zu investieren. Und obwohl ihre Ahnungen ihr nichts über den neuen Arbeitsplatz verrieten, war sie überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
    Dieser Tag würde ihr Leben von Grund auf ändern.
    Die Dieselabgase des endlosen L kw-Stroms, der Fracht zum Hafen brachte oder dort abholte, hatten den nassen, erdigen Geruch noch nicht überlagert, der vom Fluss in die kühle Morgenluft stieg. Auf dem Weg zur Arbeit sah Min ein paar Touristen spazieren gehen; sie hatten kleine Styroporbecher mit Hotelkaffee in der Hand und blieben immer wieder stehen, um praktisch jedes zweite Haus am Hauptplatz zu bewundern und zu fotografieren. Eine stattliche alte Dame in weißer Spitzenbluse, violetter Strickjacke und schwarzem Faltenrock hob ihr Malteserhündchen vom Boden auf, um es über die Liberty Street zu tragen, und erwiderte Mins Morgengruß nur mit einem beleidigten Blick.
    Das OCI -Gebäude besaß fünf Stockwerke, doch die Firma residierte nur in Erdgeschoss und erster Etage und hatte die drei oberen Geschosse an andere Unternehmen vermietet. Min hatte den Weg zu Boyd Whitemarshs Büro bereits gezeigt bekommen und öffnete das Vorzimmer mit einem ihrer neuen Schlüssel. Kaum hatte sie die Tür geschlossen, musterte sie kurz ihren Schreibtisch. Jemand hatte ihn für sie abgeräumt, doch im Ablagekorb türmten sich Berichte und Rechnungen, und im Posteingang stapelten sich ungeöffnete Briefe, die offenbar im Laufe der vergangenen Woche eingetroffen waren.
    Min sah auf ihre Uhr; bis zum Eintreffen ihres neuen Chefs war noch eine Dreiviertelstunde Zeit, um dem Büro wenigstens den Anschein von Ordnung zu verleihen. Zum Glück hatte Rebecca Morton, die Personalleiterin von OCI , Min vorgewarnt, dass es für sie viel aufzuräumen geben würde.
    »Die junge Dame, die vor Ihnen für Mr Whitemarsh gearbeitet hat, hatte persönliche Probleme«, hatte Rebecca mit missbilligend geschürzten Lippen gesagt. »Ich habe sie mehrfach zur Ordnung gerufen und dreimal abgemahnt, doch sie hat das alles ignoriert, und nach einer hässlichen Szene mussten wir sie entlassen.« Dabei hatte sie Min über die Brille hinweg gemustert. »Unsere Klatschtanten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher