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Dünengrab

Dünengrab

Titel: Dünengrab
Autoren: Sven Koch
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wirbelte herum und schrie: »Fass mich nicht an!« Unter Tränen wiederholte sie: »Fass mich nicht an!«
    Er tat es trotzdem, schlang die Arme um sie und zog sie mit einem Ruck an sich heran. Er fühlte, wie alle Kraft und jede Spannung aus Femke wich. Sie weinte hemmungslos. Schweigend hielt Tjark sie fest. »Ich habe ihm vertraut«, sagte sie mit belegter Stimme. »Es gab kein Anzeichen, dass ich damit falschgelegen haben könnte.«
    Tjark strich Femke übers Haar. Manchmal waren die Anzeichen da, dass sich das Böse in das Leben geschlichen hatte. Man erkannte sie nur nicht, weil man nicht wusste, was sie zu bedeuten hatten und worauf man achten musste. Für sich selbst genommen hatten sie nichts zu sagen. Erst in der Summe ergaben sie ein Bild. Ein Bild, das Tjark ebenfalls nicht wahrgenommen hatte, weil andere Dinge in ihm zu stark gewesen waren. Würde er sich das jemals verzeihen können?
    Leise sagte Femke: »Er hat sich in mein Leben geschlichen. Wenn das alles nur eine Lüge war – was war mein Leben dann? Und wenn es stimmt, dass …«
    Tjark wusste, was Femke sagen wollte, und legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. »Du hast keine Schuld. Und vielleicht hat dir irgendwann eine innere Stimme gesagt, dass du dich besser von ihm lösen solltest, bevor dir noch etwas geschieht.«
    »Und dann ist es anderen geschehen …«
    »Weil er es so wollte. Nur deswegen.«
    »Warum ist er nach Werlesiel zurückgekommen? Wäre er doch nur vorher irgendwo krepiert.«
    »In Werlesiel hat er als Junge die Schwelle in ein Land überschritten, aus dem er nicht wieder zurückkonnte.« Ein Land, auf das Tjark durch den Türspalt bereits selbst einen Blick geworfen hatte. Es war ein Land der einfachen Lösungen, in dem man nur seinen eigenen Regeln zu folgen brauchte. »Ruven ist hier geboren worden, und ich wette, er hat jede Sekunde genossen, sich als Bestie unter den Menschen zu bewegen.«
    »Ich habe nichts gemerkt!«
    »Niemand hat etwas gemerkt, weil er gelernt hat, sich zu verstecken. Ruven war kein Dummkopf. Er hat begriffen, dass er das, was in ihm tobt und wütet, kontrollieren muss, um nicht aufzufallen. Er hat es gesteuert. Vielleicht ist er zur Fremdenlegion gegangen, um das Töten zu lernen – vielleicht, weil Waffen Macht verleihen. Vielleicht hat er früher nur deswegen mit Pferden gearbeitet, um etwas Starkes und Mächtiges dominieren zu können – manche Menschen berauscht es, Pferde zu töten. Vielleicht hat ihn allein die Möglichkeit berauscht, solche Dinge tun zu können. Irgendwann hat ihm das nicht mehr ausgereicht.«
    »Weil ich in den entscheidenden Momenten nicht mehr da war, hat er die Kontrolle verloren«, sagte Femke matt und presste das Gesicht an Tjarks Schulter.
    Tjark schwieg. Er fror. Auch in seinem Leben gab es jemanden, für den er im entscheidenden Moment nicht da gewesen war. Er blickte in den Himmel und dachte an seinen Vater. »Ruven«, sagte er dann, »hatte sich selbst längst verloren.«
    Ein Nebelhorn zerriss die Stille. Ein weiß-orangefarbener Bug schälte sich aus der Dunkelheit. Suchscheinwerfer tasteten über die Desire.
    »Seenotrettung«, hörte Tjark es laut aus einem Lautsprecher scheppern. »Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«
    »Ja«, sagte Tjark leise wie zu sich selbst. »Es ist alles in Ordnung.« Aber das war eine Lüge.

88
    Der Wind spielte in Tjarks Haaren. Es rauschte in den Bäumen. Die Unterseiten der Blätter funkelten wie Silbermünzen in der Sonne. Dicke Wolken zogen über den tiefblauen Himmel, als gehörten sie zu einer Schafherde, die von einem Hund gejagt wurde. Nordseewetter. Aber die Nordsee war fern.
    Tjark senkte den Blick und schaute in das offene Grab neben dem seiner Mutter. Er stand bereits eine ganze Weile hier. Wie lange, das hätte er nicht zu sagen vermocht, aber der Pfarrer und die wenigen Bekannten, die sein Vater noch gehabt hatte, waren längst fort – auch Sabine. Tjark hatte sich ein Herz genommen und sie angerufen. Er wollte seiner Ex-Frau den Abschied nicht nehmen. Die tröstenden Worte von ihr hatten sogar geholfen. Zumindest ein wenig.
    Ein kleines Häuflein Mensch in einer Kiste aus Holz, dachte Tjark – das war es, was am Ende übrig blieb. Und die Erinnerungen. Manche davon würden verblassen. Das Schlechte würde verschwinden, das Gute bleiben. Am Ende siegte das Gute immer – auf die eine oder andere Art und Weise.
    Er warf die weißen Rosen hinein. Sie fielen mit einem Rascheln auf den Sargdeckel. Tjark wusste nicht, ob
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