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Dünengrab

Dünengrab

Titel: Dünengrab
Autoren: Sven Koch
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Nein, dachte Tjark, den Mann würde er nicht mit Worten aufhalten können. Und doch musste es einen Grund geben, warum Ruven noch nicht geschossen hatte. Er wusste, dass Schüsse gehört werden konnten, weil Boote dort draußen unterwegs waren und bereits nahe sein mochten. Das war der Grund. Damit wäre seine Chance zur Flucht verspielt. Das Risiko durfte er nicht eingehen. Dass er die Waffe nicht benutzen wollte, erhöhte die Chance, sie ihm wegzunehmen. Also musste er Ruven weiter aus der Reserve locken, um ihn abzulenken.
    »Okay«, antwortete Tjark, »dann nenne ich dich Heulsuse.«
    Ruven stieß mit dem Gewehrlauf wie mit einem Speer nach vorne und rammte das Metall gegen Tjarks Stirn. Im ersten Augenblick sah Tjark Sterne. Im zweiten spürte er, dass ihm etwas Warmes übers Gesicht strömte.
    »Du«, zischte Ruven, »wirst jetzt aufstehen und als Erster ins Wasser gehen. Aufstehen!«
    »Willst du mir beim Ertrinken zusehen? So wie damals deiner Schwester?«
    »Sprich nicht von meiner Schwester …«
    »Ist dir damals zum ersten Mal einer abgegangen? Ist das Wasser deswegen so wichtig für dich?«
    »Als ich meine Schwester in den Priel gestoßen habe, hat es mich kurzfristig wirklich glücklich gemacht. Aber aus anderen Gründen, als du denkst.«
    »Lass mich raten: Sie war für deine Eltern immer das Größte, und dich haben sie kaum wahrgenommen. Du dachtest, das würde sich bessern, wenn sie weg wäre. Aber das Gegenteil geschah. Oder vielleicht wolltest du einfach nur sehen, was passiert, wenn du sie in den Priel stößt, und es hat dir gefallen.«
    »Ich habe sogar ihr Zimmer angezündet, um alle Erinnerungen zu tilgen.«
    »Aber sie haben sich nur noch weniger um dich gekümmert.«
    »Kluger Bulle. Irgendwann wollte ich alles hinter mir lassen, trat in die Fremdenlegion ein – und wurde ein neuer Mensch mit einer neuen Identität.«
    »Aber so ganz kann man nicht abstreifen, was man ist.«
    »Nein – auch nicht, dass ich gelernt habe, mit bloßen Händen zu töten, und das werde ich dir gleich demonstrieren, wenn du nicht sofort aufstehst.«
    Gut, dachte Tjark. Ruven wollte also wirklich nicht schießen. »Dann solltest du das Gewehr aus meinem Gesicht nehmen.«
    Mit einem Ruck löste sich der Druck von Tjarks Stirn. Er erhob sich umständlich, um noch etwas Zeit zu schinden, und hielt sich an der Reling fest. Wenn er stand, dachte Tjark, hätte er die Möglichkeit, den Gewehrlauf zu fassen und hochzureißen, um dann Ruven mit einem Schulterstoß von Bord zu stürzen. Er müsste schnell sein, sehr schnell und beherzt, und er durfte sich auf keine Rangelei einlassen. Ruven war in der Legion gewesen und im Nahkampf ausgebildet.
    »Und du hast recht«, sagte Ruven mit einem schrägen Lächeln. »Ich will dich ersaufen sehen. In der Strömung hältst du es keine fünf Minuten aus.«
    Jetzt stand Tjark. Er stellte die Füße auseinander, um einen stabileren Halt zu finden.
    »Also dann«, sagte Ruven.
    Plötzlich blickte er zur Seite. Der Nebel wurde mit einem Mal stark erhellt. Es rauschte laut. Hubschrauber, dachte Tjark. Er nutzte die Sekunde und griff mit beiden Händen nach dem Gewehrlauf und drückte ihn nach oben. Ein Schuss löste sich. Schlagartig wurde Tjarks linkes Ohr taub. Dann wurde das Licht unerträglich grell, und ein Sturm kam auf. Die Desire taumelte. Ruven packte Tjark an der Jacke, was es ihm unmöglich machte, zu einem Schwinger auszuholen. Ruven ruckte mit aller Gewalt an dem Gewehrlauf, den Tjark nach wie vor festhielt. Dabei verlor er den Halt, wodurch auch Tjark aus dem Gleichgewicht kam.
    Im nächsten Moment stürzten die beiden Männer in die eiskalte Nordsee.

84
    Ceylan musste die Augen zusammenkneifen und sich mit beiden Händen am Rand des Bootes festhalten. Die Suchscheinwerfer blendeten sie. Der Lärm des Rotors war ohrenbetäubend und verwandelte das Meer in kabbelige See, für die weder das kleine Boot noch ihr Magen ausgelegt waren.
    Fred hielt gegen das helle Licht beide Hände wie einen Schirm über die Augen und sich selbst irgendwie in der Balance. Es roch nach Abgasen, als der Hubschrauber über ihnen schwebte und sich langsam vorarbeitete. Jemand schwenkte den Suchscheinwerfer hin und her. Der heftige Abwind der Rotorblätter sorgte dafür, dass der Nebel verwirbelt wurde. Er verschwand nicht ganz, gleichwohl waren nun, wenn man dem Lichtstrahl mit den Blicken zu dessen Quelle folgte, blinkende Positionslichter zu sehen sowie ein Rechteck. Es war orange, dabei
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