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Du und ich und all die Jahre (German Edition)

Du und ich und all die Jahre (German Edition)

Titel: Du und ich und all die Jahre (German Edition)
Autoren: Amy Silver
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Hause konnten. Als wir ins Wartezimmer kamen, sah ich, dass Charles in einer Ecke saß und Kaffee trank. Er schaute uns hinterher, sagte aber nichts.

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    3. Kapitel
    Erster Weihnachtstag 2011
    Ich sollte arbeiten. Und wenn ich schon nicht arbeite, sollte ich zumindest sauber machen. Ich mache keines von beidem. Stattdessen sitze ich an meinem Schreibtisch in meinem kleinen Büro auf dem Dachboden und versuche, eine höfliche E-Mail an meinen Vater zu schreiben, in der ich erkläre, wie leid es mir tut, dass er Krebs hat, ich ihn aber nicht besuchen kann, bevor er operiert wird.
    Ich habe einfach keine Zeit.
    Wie unglaublich gefühllos das klingt. Es ist gefühllos. Aber auch die Wahrheit. Ich habe keine Zeit. Ich muss in den drei Tagen, bevor wir losfahren, noch tausend Sachen erledigen. Und warum sollte ich seinetwegen meine ganze Planung über den Haufen werfen? Um Janet Jackson zu zitieren: What have you done for me lately , was hat du in letzter Zeit für mich getan? Es ist so verdammt typisch für ihn, dass er jetzt ankommt, wo es ihm schlechtgeht. Wo war er vor vier Jahren, als mein ganzes Leben aus den Fugen geraten ist? Und überhaupt, wie er schreibt! Mit Bedauern muss ich dir mitteilen …  – das hört sich an, als würde er seinen Job kündigen, nicht als würde er seiner Tochter schreiben, die er in den letzten zwanzig Jahren praktisch nie gesehen hat.
    Andererseits bin ich morgen ohnehin in Oxford, um das Interview zu führen, das ich jetzt eigentlich vorbereiten müsste. Und Ledbury ist keine anderthalb Autostunden von Oxford entfernt. Es wäre kein Problem, nach dem Interview kurz vorbeizufahren. Um ein bisschen Großherzigkeit zu zeigen, ein bisschen Güte, einem alten Mann gegenüber, der eine schwere Krankheit hat, selbst wenn er ein mieser Mistkerl ist.
    Ich sollte mit Dom darüber reden. Dom weiß immer, was zu tun ist. Ich denke kurz daran, Mom anzurufen, um ihr von der Mail zu erzählen. Wir sprechen fast nie über meinen Vater; er ist der rosa Elefant im Raum, an dem man geflissentlich vorbeisieht. Ich kann es ihr nicht sagen. Nicht jetzt, wo sie in Costa Rica Urlaub macht und sich mit ihren Freunden amüsiert. Ich will ihr den Urlaub nicht verderben, nicht nach allem, was sie seinetwegen durchgemacht hat.
    Ich greife zum Telefon und rufe Dom auf dem Handy an.
    «Nicole», sagt er. «Das ist eine total sinnlose Geldverschwendung.»
    «Ich habe fünfhundert Freiminuten», verteidige ich mich. «Die verbrauche ich eh nie.»
    Dom sitzt unten in seinem Arbeitszimmer, einem kleinen Anbau im Erdgeschoss unseres Hauses. Klar könnte man mich jetzt für faul und verschwenderisch halten, aber in mein Büro rein- und wieder rauszukommen ist wirklich nicht so einfach. Man erreicht es nur über eine ausziehbare Leiter, die nicht besonders stabil ist, und riskiert jedes Mal Leib und Leben. Oder zumindest die Finger, die man sich leicht in den Scharnieren der Leiter einklemmen kann. Trotzdem liebe ich mein Büro. Es ist so winzig, dass ich mich kaum darin bewegen kann, aber durch das Dachfenster habe ich eine großartige Aussicht. Der Blick verändert sich Monat für Monat, manchmal sogar Woche für Woche, er wird mir nie langweilig. Außerdem ist die Decke so niedrig, dass Dom hier oben nicht aufrecht stehen kann, obwohl er nicht gerade ein Riese ist. Es ist mein Refugium, in das ich mich zurückziehen kann, ohne dass er mir folgt. Manchmal braucht man das einfach.
    «Was gibt’s?», fragt Dom.
    Ich will ihm von meinem Vater erzählen, will ihn um Rat bitten, aber irgendwie bringe ich die Worte nicht heraus, weil ich dann vielleicht losheulen würde. Und ich will nicht seinetwegen weinen. Das habe ich jahrelang getan, und es reicht.
    «Wir sollten mit der Weihnachtsdekoration anfangen», sage ich stattdessen.
    «Du rufst mich an, um mir das mitzuteilen?», fragt Dom verständnislos. «Du weißt schon, dass du dein Arbeitszimmer verlassen und die Treppe herunterkommen musst, wenn du mir helfen willst, den Schmuck abzunehmen? Oder rufst du nur an, um Anweisungen zu erteilen?»
    «Ich bin sofort unten», sage ich und lege auf.

    Manche Leute finden es deprimierend, den Weihnachtsschmuck abzunehmen, ich sehe das anders. Wenn ich ehrlich bin, war mir Silvester immer schon lieber als Weihnachten. Weihnachten ist gemütlich und familiär; Silvester ist aufregend, ein Neuanfang, verschiebt die Grenzen des Machbaren. Und es gibt einem die Möglichkeit, Vergangenes zu den Akten zu legen.
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