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Du sollst nicht hassen

Titel: Du sollst nicht hassen
Autoren: Izzeldin Abuelaish
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bedeutsame Neuigkeit sprechen. Mir war kürzlich die Chance geboten worden, in Kanada an der Universität von Toronto zu arbeiten. Abgesehen von einem kurzen Aufenthalt in Saudi-Arabien, wo Bessan und Dalal geboren wurden, hatte die Familie nie woanders gelebt als in Gaza. Nach Toronto zu ziehen wäre eine große Veränderung, vielleicht wäre sie sogar zu überwältigend, so kurz, nachdem ihre Mutter gestorben war.
    Doch als ich diese Befürchtung äußerte, sagte Aya: »Ich will fliegen, Papa!« Die anderen stimmten auch bald zu: Wir würden gemeinsam nach Kanada gehen, nicht für immer, aber für einige Zeit. Die älteren Mädchen – Bessan, 21, Dalal, 20, und Shatha, 17 – würden die Universität von Toronto besuchen; die jüngeren Kinder – Mayar, 15, Aya, 14, Mohammed, 13, Raffah, 10, und Abdullah, 6 – würden in Kanada zur Schule gehen. Viele Herausforderungen warteten auf sie: der Unterricht auf Englisch, die Erfahrung eines kanadischen Winters, das Kennenlernen einer anderen Kultur. Aber wir wären auch aus der Dauerspannung von Gaza heraus; sie wären in Sicherheit. Meine acht Kinder schienen mit ihrer Mutter Halt und Ziel verloren zu haben. Diese Veränderung würde ihnen guttun. Zusammen würden wir es schaffen. Ich konnte ihren Gesich tern die Aufregung ansehen, und ich spürte zum ersten Mal seit Monaten einen wieder erwachten Optimismus.
    Nachdem die Familiendiskussion beendet war und wir die Reste unserer Mahlzeit weggeräumt hatten, wollten die Kinder unbedingt zum Strand. Wir folgten dem ausgetretenen Pfad über einen kleinen Hügel und eine Wiese, die vom Olivenhain zum Wasser führt, wobei unsere Gruppe sich alle paar Meter neu formierte, weil ein Kind vorausrannte und zwei andere anhielten, um etwas am Wegesrand näher zu untersuchen. Schließlich gelangten wir alle zum Strand.
    Obwohl der Tag kühl war, rannten die Kinder direkt ins Wasser, wo sie stundenlang schwammen und einander vollspritzten; zwischendurch machten sie Pausen, um im Sand zu spielen. Diese meine Kinder waren die Freude meines Lebens, und für Nadia hatten sie die Welt bedeutet.
    Ich kannte Nadias Familie bereits, ehe wir 1987 heirateten, da war sie vierundzwanzig und ich zweiunddreißig. Es war eine arrangierte Ehe, wie das in unserer Kultur Brauch ist, doch unter den jungen Frauen, mit denen meine Familie ein Kennenlernen organisierte, schien Nadia die Passendste zu sein. Sie war eine stille, intelligente Frau, die eine Ausbildung zur Zahntechnikerin gemacht hatte, um in Ramallah auf der West Bank zu arbeiten. Unsere Familien waren über unsere Verbindung sehr erfreut, waren aber weit weniger glücklich darüber, dass wir Gaza beinahe umgehend nach unserer Hochzeit verließen, und nach Saudi-Arabien gingen, wo ich als Allgemeinmediziner arbeitete. Nadia empfand die ungewohnte Umgebung als bedrückend. Auch wenn Bessan und Dalal dort geboren wurden, hat sie sich nie so recht an das Leben in Saudi-Arabien gewöhnt; sie hatte nie das Gefühl, dort heimisch zu sein. Die Sitten sind anders, als wir es gewohnt waren, und sie litt sehr unter der Trennung von unserer ganzen Familie und wollte nach Hause zurückkehren, was wir 1991 schließlich auch taten.
    Ich war viel unterwegs, nachdem wir uns wieder in Gaza niedergelassen hatten. In Afrika und Afghanistan zum Arbeiten und in Belgien und den Vereinigten Saaten für medizinische Weiterbildungen, aber Nadia blieb zu Hause bei den Kindern. Wir waren eine sehr traditionelle Familie, umgeben von meinen Brüdern und ihren Familien, meiner Mutter, die nebenan wohnte, und Nadias Eltern, die in der Nähe lebten. Da ich oft fortmusste, hatten sowohl Nadia wie ich das Bedürfnis, andere Familienmitglieder in der Nähe zu haben. Sie hat sich in den zweiundzwanzig Jahren unserer Ehe nie über meine häufige Abwesenheit beklagt. Ohne ihre Unterstützung hätte ich niemals in Harvard studieren, für die Weltgesundheitsorganisation in Kabul arbeiten oder in Israel meinen Facharzt in Geburtshilfe und Gynäkologie machen können.
    Es erschien mir so unwirklich, dass sie nicht mehr da war. Ich sah meinen Kindern zu und fragte mich, was ohne ihre Mutter aus ihnen werden sollte. Wie ist es möglich, einen solchen Schmerz zu bewältigen?
    In den Wochen, nachdem Nadia gestorben war, hatte Bessan, meine älteste Tochter, die Mutterrolle übernommen. Hier am Strand war es für mich eine besondere Erleichterung, sie ins Meer springen zu sehen, ihre Jeans von der Brandung durchnässt und ihr Lachen
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