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Du sollst nicht hassen

Titel: Du sollst nicht hassen
Autoren: Izzeldin Abuelaish
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leben, abgeriegelt und verarmt, Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt zu beobachten, wie Versprechen gebrochen und Chancen vertan werden. Den Vereinten Nationen zufolge hat der Gazastreifen die höchste Bevölkerungsdichte der Welt. Die Mehrheit der etwa 1,5 Millionen Einwohner sind palästinensische Flüchtlinge, von denen viele seit Jahrzehnten in Flüchtlingscamps leben; Schätzungen nach leben achtzig Prozent in Armut. Unsere Schulen sind überfüllt, und das Geld reicht nicht, um die Straßen zu pflastern oder die Krankenhäuser zu versorgen.
    Die acht Flüchtlingscamps und die Städte – Gaza-Stadt und Jabaliya –, aus denen Gaza besteht, sind laut, übervölkert, schmutzig. Ein Flüchtlingscamp, das Beach Camp im Westen von Gaza-Stadt, beherbergt mehr als 81000 Menschen auf weniger als einem Quadratkilometer. Aber wenn man genau genug hinhört, kann man in den Camps den Herzschlag des palästinensischen Volkes hören: Wir leben nicht für uns allein. Wir leben füreinander und um einander zu unterstützen. Was ich für mich und meine Kinder tue, tue ich auch für meine Brüder und Schwestern und ihre Kinder. Wir sind eine Gemeinschaft.
    Der Geist von Gaza wohnt in den Cafés, in denen die immer gleichen Gäste Wasserpfeife rauchend die aktuellen Neuigkeiten diskutieren, in den bevölkerten Gassen, in denen die Kinder spielen, auf den Märkten, auf denen die Frauen einkaufen, in den Worten der alten Männer, die durch die kaputten Straßen zu ihren Freunden schlurfen, ihre Gebetsketten durch die Finger gleiten lassen und beklagen, was sie verloren haben.
    Manchmal könnte man denken, alle hätten es eilig – die Köpfe gesenkt, ohne Blickkontakt von Ort zu Ort hastend. Aber es sind die Gebärden von zornigen Menschen, die genötigt, vernachlässigt und unterdrückt wurden. Eine zähe, unerbittliche Niedergedrücktheit durchzieht jeden einzelnen Aspekt des Lebens in Gaza, von den Graffiti auf den Wänden der großen und kleinen Städte bis zu den alten Leuten, die nie lächeln, den arbeitslosen jungen Männern, die sich auf den Straßen drängen, und den Kindern, die im Spiel am Strand Ablenkung suchen.
    Das ist mein Gaza: israelische Kanonenboote am Horizont, Helikopter über uns, die stickigen Schmugglertunnel nach Ägypten, Lastwagen mit UN-Hilfsgütern auf den Fahrstraßen, zerstörte Gebäude und eine verrottende Infrastruktur. Nie gibt es genug – weder genug Speiseöl noch genug frisches Obst oder Wasser. Die Allianzen wechseln in Gaza so schnell, dass es manchmal schwerfällt zu wissen, wer gerade das Sagen hat und wer für die Zustände verantwortlich zu machen ist: Israel, die internationale Gemeinschaft, die Fatah, die Hamas, die Banden, die religiösen Fundamentalisten.
    Gaza ist eine Zeitbombe, die dabei ist zu implodieren. Seit der Wahl der Hamas im Januar 2006 und dem Beschuss Israels mit Kassam-Raketen von Seiten der Palästinenser hatten sich die Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern verschärft. Die selbstgebastelten Raketen, die oft ihre Ziele verfehlten, waren ein Ausdruck der Verzweiflung. Sie forderten die Überreaktion der israelischen Armee heraus, und die Vergeltungsangriffe aus den Kampfhubschraubern ließen Krieg und Zerstörung auf die Palästinenser niedergehen, oft waren wehrlose Kinder unter den Opfern. Das wiederum bereitete den Boden für noch mehr Kassam-Raketen, und der Kreislauf begann von vorn.
    Als Arzt würde ich diesen Kreislauf aus Provokation und Einschüchterung als eine Form selbstzerstörerischen Verhaltens bezeichnen, das angesichts aussichtsloser Situationen entsteht. In Gaza wird uns alles verweigert. Die Antwort auf jedes unserer Bedürfnisse ist »Nein«. Kein Gas, kein Strom, keine Ausgangserlaubnis. Nein zu den Kindern, nein zum Leben. Selbst die Gebildeten kommen damit nicht zurecht. Es gibt in Gaza pro Kopf mehr Hochschulabsolventen und Postgraduierte als an den meisten Orten der Erde, aber ihre sozio-ökonomischen Verhältnisse entsprechen aufgrund von Armut, geschlossenen Grenzen, Arbeitslosigkeit und unterdurchschnittlichen Wohnverhältnissen nicht ihrem Bildungsgrad. Die Menschen können kein normales Leben führen, und als Resultat nimmt der Extremismus zu. Man kann von einer Person unter kranken Umständen nicht erwarten, gesund zu denken. Fast jeder hier hat psychische Probleme der einen oder anderen Art, jeder bräuchte eine Behandlung. Aber es gibt nichts, das die Spannung lindern könnte. Dieses selbstmordgleiche Verhalten, das
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