Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Du musst die Wahrheit sagen

Titel: Du musst die Wahrheit sagen
Autoren: Mats Wahl
Vom Netzwerk:
wieder an und verstaute Bergers unter dem Plastiküberzug.
    In dem Moment rief Nadja an.
    »Was machst du?«, fragte sie.
    »Schnüffle.«
    »Vielleicht komme ich doch«, sagte sie.
    »Mach das. Ich werde Tee trinken.«
    »Es dauert aber noch ein bisschen. Muss erst noch was erledigen.«
    »Komm, wenn du Lust hast.«
    Sie schwieg eine Weile.
    »Wonach schnüffelst du?«
    »Nach meinem Großvater.«
    »Ist er verschwunden?«
    »Irgendwie schon.«
    »Was wolltest du mir zeigen?«
    »Das zeig ich dir, wenn du kommst.«
    »Es wird noch ein bisschen dauern. Muss erst noch was erledigen.«
    »Komm, wenn du willst.«
    »Bis bald.«
    In einem anderen Schrank fand ich drei Koffer. Zwei schienen noch ziemlich neu zu sein. Einer war aus verschlissener Presspappe. Ich öffnete alle drei. Die neuen waren leer. In dem dritten lag ein Haufen dreißig Jahre alter Pornozeitschriften. Ich stellte die Koffer zurück und ging ins Obergeschoss.
    Die Bücher in den Regalen schienen überwiegend von Geschichte zu handeln. Zwei dicke über Napoleon, eins über Stalin und zwei über Hitler. Mehrere über Wellington und Nelson. Die meisten waren auf Deutsch. Ich fand nur eines auf Schwedisch. »Er gab sich nie geschlagen«. Es handelte sich um eine wahre Geschichte von einem englischen Kampfflieger, derbeide Beine oberhalb der Knie verloren hatte und seinen Jagdbomber mit Prothesen flog. Der Beinlose wurde bei der Schlacht um England Fliegerheld.
    Ich saß auf dem Sofa und blätterte und las hier und da ein paar Seiten. Ich stellte mir vor, ich säße in einer Hurricane über London. Im Rückspiegel sah ich eine Messerschmitt hinter mir auftauchen. Ich legte mich in eine steile Kurve, machte einen Looping und war hinter dem Deutschen. Meine Maschinengewehrsalven zerrissen das Flugzeug vor mir. Der Pilot öffnete die Haube, um abzuspringen. Ich sah das Blut aus seiner zerschossenen Hand spritzen. Dann warf sich der Deutsche aus seiner brennenden Maschine. Nach einer Weile entfaltete sich der Fallschirm.
    Es schien ein gutes Buch zu sein.
    Dann zog ich Bergers Schubladen auf. In der Schublade im Nachttisch lag ein schwarzes Metallkreuz an einem Band, das man um den Hals hängen konnte. Unter dem Kreuz lag ein Zeitungsartikel. Das Papier war vergilbt. Es war nicht zu erkennen, aus welcher Zeitung der Artikel stammte. Mehr als einhundert deutsche Flugzeuge waren während des Krieges in Schweden gelandet, stand darin. Es gab ein Foto von dem etwa dreißig Jahre alten Berger. Er trug ein Sakko, ein Hemd ohne Schlips und eine Kappe. Neben ihm stand eine Frau mit langen Haaren. Sie trug einen weiten Mantel mit Gürtel und einen seltsamen platten Hut. Lächelnd hatte sie sich bei Berger eingehängt. Oberleutnant Berger blieb nach dem Krieg in Schweden, stand unter dem Bild.
    Eine vergilbte Todesanzeige lag auch in der Schublade. Vielleicht ging es um die Frau auf dem Bild? Ich glaube, sie hatten denselben Namen, die Frau auf dem Foto und die Frau in der Anzeige, die an Kinderlähmung gestorben war.
    Auf dem Nachttisch stand eine Lampe mit einem Schirm aus rotem Blech. Ich zog den Stecker heraus und wickelte das Kabelum die Lampe, ging die Treppe hinunter, weiter durch den Keller und hinaus in den Garten.
    Auf dem Schotterweg saß eine Elster. Vielleicht war es die Elster, die die sterbende Krähe ausgelacht hatte. Ich kehrte zurück in den Garten und ging zu der Stelle, wo ich die Krähe hingelegt hatte. Sie war weg. Vielleicht hatte ein Dachs sie geholt.
    Wieder in unserem Haus angekommen, kochte ich Tee und toastete Brot. Ich bestrich die Scheiben dick mit Himbeermarmelade und trug alles in mein Zimmer. Bergers Lampe platzierte ich auf dem Stuhl und steckte sie ein. Dann legte ich mich aufs Bett und las weiter in meinem Lieblingsbuch. Dabei trank ich zwei Tassen Tee und aß die Butterbrote auf.
    Ich trieb den großen Strom hinunter und hörte im Dunkeln die Gespräche unbekannter Menschen an Land. Weit entfernt sah ich die Lichter eines Raddampfers. Nach einer Weile schlief ich ein.
    Ich muss ziemlich lange geschlafen haben, denn als ich aufwachte, fühlte ich mich erholt. Es hatte wieder angefangen zu regnen. Ich goss mir eine halbe Tasse von dem inzwischen kalt gewordenen Tee ein, und als ich die Tasse zum Mund führte, hörte ich sie, obwohl meine Tür geschlossen war.
    Es war Annie.

    30

    »Nein, lass das!«, hörte ich sie rufen. »Lass das!«
    Dann rief sie es wieder, energischer, lauter.
    »Lass das!«
    Eine andere, tiefere Stimme sagte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher