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DU HÖRST VON MIR

DU HÖRST VON MIR

Titel: DU HÖRST VON MIR
Autoren: Luis Algorri
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sicherlich die schlimmsten des Tages. Warum sollte es auch anders sein?
    Wenn ich ihn während der Nachhilfestunde ansah und mich dieser Gedanke überfiel, konnte ich nicht verhindern, mich neben ihn zu setzen, ihn bei den Schultern zu packen und an mich zu drücken, als würde er mir sonst plötzlich davon flattern: »Mann, José, jetzt konzentrier dich mal! Das ist ein Akkusativ, merkst du das denn nicht?«, fuhr ich ihn an.
    Trotz seiner Schüchternheit wehrte er diese Berührungen niemals ab, die er bestimmt als Zeichen einer unschuldigen Zuneigung interpretierte oder als Aufmunterungen oder wie auch immer. Mich ließen sie aufleben. Die zwei Stunden kamen mir jedes Mal kürzer vor, aber immerhin wusste ich, dass mich nach deren Ende ein neues Glück erwartete: der Augenblick nämlich, wo wir unsere Sporttaschen packten und ins Freibad gingen. Ana schaute mich seltsam an.
    »Ihr kommt jedes Mal später«, sagte sie vorwurfsvoll.
    »Uns bleiben noch drei Wochen. Wir müssen uns ranhalten.«
    »Euch bleiben drei Wochen? Und ich dachte, er macht die Prüfungen.«
    »Ja, ich weiß. Du verstehst schon, wie ich das meine«, sagte ich sachlich.
    »Du nimmst das mit José ganz schön ernst, was?«
    »Ich? Ach Quatsch! Aber wenn ich etwas mache, mache ich es richtig.«
    »Aber seit zwei Wochen redest du von nichts anderem. Das fällt sogar Clara auf. Immer wenn wir irgendwo im Cafe sitzen und uns unterhalten, fängst du davon an, welche Fort schritte José macht, was José heute Nachmittag gelernt hat oder was er gestern Nachmittag verstanden hat oder vorgestern oder du redest vom Gallischen Krieg oder von Felipe II.
    Das wird ein bisschen anstrengend, Javi. Hoffentlich macht dieser Knabe endlich bald seine Prüfungen...«

    Ana konnte nicht wissen, dass ich wer weiß was dafür gegeben hätte, wenn die Prüfungen eine Woche verschoben worden wären, oder auch zwei oder wenn sie überhaupt niemals stattfinden würden. Ich spürte, wie meine Nerven jeden Tag angespannter wurden. Jedes Mal wenn ich sie sah, wenn ich sie umarmte oder küsste, hatte ich das Gefühl, als würde ich blind auf einem schmalen Grat wandern.
    Und an einem dieser Nachmittage im Freibad – wir kamen gerade aus dem Schwimmbecken – spürte ich, wie ich auf diesem schmalen Grat ins Wanken geriet. Wir gingen zu der Ecke des Bades, wo unsere Handtücher lagen. Ana und ich gingen Hand in Hand, als sie plötzlich stehen blieb. Sie stieß mich mit dem Ellenbogen an, grinste und bemerkte spitz:
    »Jetzt sieh dir das mal an! Der scheint ja wirklich Zeit für alles Mögliche zu haben.«
    »Wer?«
    »Na, wer schon? José! Und die Kleine sieht auch gar nicht schlecht aus, oder?«
    Ich drehte mich um und da sah ich sie. José in seiner blauen Badehose saß auf der Rasenfläche neben den Tennisplätzen, im Schneidersitz, die Arme auf die Oberschenkel gestützt.
    Das Mädchen kniete neben ihm auf dem Rasen und trug einen schwarzen Bikini. Er hatte nur Augen für sie. Er redete mit ihr und lachte, während er sich durch sein langes dunkles Haar strich. José lächelte, wie ich ihn noch niemals hatte  lächeln sehen. Ich spürte, wie sich etwas in meiner Brust zusammenkrampfte.
    »Lass uns gehen«, bat ich.
    »Was hast du denn?«
    »Nichts. Komm, lass uns bitte gehen.«
    »Aber wieso bist du denn plötzlich so komisch?«
    »Ich bin überhaupt nicht komisch. Ich kann nur dieses Freibad nicht länger ertragen. Den ganzen Sommer kommen wir hierher wie die Lemminge. Jeden Nachmittag. Ich möchte jetzt einfach nur sofort weg von hier.«
    »Na gut, meinetwegen gehen wir... Aber wo willst du denn hin? Um sieben Uhr abends? Ins Kino? Zu mir nach Hause?«
    »Egal wohin. Nur nicht zu dir nach Hause. Komm, lass uns ins Kino gehen.«
    Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, welchen Film wir dann eigentlich gesehen haben.

    Als ich am nächsten Tag um sechzehn Uhr das Zimmer von José betrat, war er – wie immer – schon am Lernen.
    »Alles klar?«, fragte ich knapp.
    »Hallo Javier, wie geht's?«
    »Hast du die Übersetzung gemacht, die ich dir gestern gegeben habe?«
    »Ich bin fast damit fertig«, sagte er stolz.
    »Wieso fast?«
    »Ich hatte nicht genug Zeit.«
    Ich streifte ihn mit einem Blick. Er machte ein Gesicht wie ein Hund, wenn man ihn schlägt. Ich setzte mich an das andere Ende des Tisches und begann zu lesen.
    »Ich glaube, ich habe dir schon hundert Mal gesagt, dass es im Lateinischen Präpositionen gibt, die je nach dem, ob sie mit Indikativ oder Konjunktiv
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