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DU HÖRST VON MIR

DU HÖRST VON MIR

Titel: DU HÖRST VON MIR
Autoren: Luis Algorri
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aufgelöst.
    »Komm schon, José, nun beruhige dich.«
    »Du kannst nicht behaupten, dass ich... du kannst nicht auf mich sauer sein...«, stammelte er.
    »Ich bin doch gar nicht böse auf dich, José, was redest du denn da?«
    Er nahm den Kopf von meiner Schulter und nun war er es, der meinen Kopf in beide Hände nahm und mir lange und tief in die Augen schaute, durch den Vorhang von Tränen hindurch. Sein Mund war zehn Zentimeter von meinem entfernt.
    Er japste mehrmals bei dem Versuch, sich zu beruhigen.
    »Weißt du, ich kann es nicht ertragen, wenn du böse mit mir bist«
    Ich drückte meine Augenlider fest zu, konnte es aber doch nicht verhindern, dass nun auch mir die Tränen kamen. Wenn ich vor Glück sterben wollte, so hätte ich sofort tot umfallen müssen. Ich drückte ihn noch fester an mich, entzog mein Gesicht seinen Händen und streichelte seine Wange mit meiner Wange.
    »Sag doch nicht so was, José!«
    »Aber es ist doch die Wahrheit, ich schwöre dir, es ist die Wahrheit. Du weißt ja gar nicht, was du alles für mich machst, was du mir bedeutest, wie ich mich mit dir fühle... «
    Er begann erneut zu weinen und drückte seinen Kopf wieder an meine Schulter. So blieben wir beide stehen, fest umarmt und weinten eine ganze Zeit lang, die ich gerne verewigt hätte. Nun sag es schon, dachte ich, wünschte ich mit all meiner Kraft, sag mir, dass du mich liebst, du Idiot, sag es mir und küss mich, bis ich einfach daran ersticke.
    Allein er tat es nicht. Er beschied sich damit zu schluchzen, immer leiser, manchmal aufzuseufzen und versuchte, sich zu beruhigen.
    Ich fand, dass es der Versuchung des Himmels genug war.
    Mit einem Witz wollte ich ihn beruhigen, ihm sagen, dass wir die Unterrichtsstunde schwänzen und besser die Übersetzung beenden sollten, doch meine Lippen gehorchten mir nicht.
    »Umgekehrt: Du weißt nicht, was du alles für mich tust«, hörte ich mich sagen.

    Die ungeheure Unschuld seines Blickes, mit dem er mich ansah, sein verstrubbeltes Haar, dieses verheulte, tränenverschmierte Gesicht, auf dem sich ganz langsam ein zartes Lächeln abzeichnete, das schönste Lächeln, das die Welt je zu Gesicht bekommen hatte, ließen mich erzittern. Ich fühlte ein so großes Glück, das der Angst gleichkam. Plötzlich hatte ich eine Idee. Wie ein Blitz.
    »Neulich hast du mir erzählt, dass du die Berge magst...«, begann ich.
    »Ja.«
    »Kennst du die Picos de Europa?«
    »Kaum. Ich glaube, als ich noch ganz klein war, war ich einmal mit meinen Eltern da.«
    Ich fing an, ihm die Haare aus der Stirn zu streichen.
    »Wenn du alle fünf Prüfungen schaffst, lade ich dich auf fünf Tage Zelten im Valle de Valdeón ein. Einen Tag für jede bestandene Prüfung. Wir beide.«
    »Meinst du das im Ernst?«, er klapperte mit den Lidern; er sah aus wie ein kleines Kind vor der Bescherung zu Weihnachten.
    »Ich verspreche es dir.«
    »Aber ich hab gar kein Zelt.«
    »Ich habe eins.«
    »Aber ich hab gar keine Kohle und meine Eltern...«
    »Ich habe gesagt, ich lade dich ein.«
    »Aber mein Rucksack ist kaputt.«
    »Du kannst einen von mir haben. Was ist? Hast du keine weiteren Einwände? Wenn du nicht willst...«
    »Na klar will ich!«, rief er und umarmte mich noch einmal mit aller Kraft. »Ich bin nur so überrascht, dass ich...«
    »Na dann sieh zu, dass sich die Überraschung legt, denn die Bedingung ist: Du musst alle fünf Prüfungen bestehen. Und dir bleiben noch – uns bleiben noch – neun Tage.«
    Er schaute mich mit leuchtenden Augen an und biss die Zähne zusammen: »Du wirst schon sehen!«
    »Los, an die Arbeit!«
    Er lachte wieder und beendete die Umarmung.
    »Gut... aber zuerst müsstest du mich loslassen, oder?«
    Ich strubbelte ihm noch einmal durchs Haar, schüttelte seinen Kopf und berührte erneut sein Gesicht mit meinem Gesicht, kitzelte ihn, hob ihn in die Luft, während wir uns beide fast totlachten und setzte ihn auf den Stuhl neben mir, ganz dicht neben mir, während ich die Papiere ordnete und uns zwei Zigaretten anzündete. José begann, zügig die lateinische Grammatik durchzuarbeiten und ich – glücklich – ließ meinen Blick über die Wände, die Lampe, den alten, dunkel gebeizten Schrank hinaus durch das Fenster in die Spätnachmittagssonne schweifen.
    In diesem Moment sah ich sie. Am offenen Fenster des Speisezimmers, das genau auf der anderen Seite des Hofes lag, stand sie. Dort stand Ana ganz still und warf mir einen eisigen Blick zu. Langsam nahm ich meine Hand von
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