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DU HÖRST VON MIR

DU HÖRST VON MIR

Titel: DU HÖRST VON MIR
Autoren: Luis Algorri
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meinetwegen. Ich ging zu ihr, lächelte und legte mich rücklings neben sie auf den Rasen.
    »Na, wie war's?«, wollte sie wissen.
    »Gut. Er ist ein echt netter Kerl.«
    »Daran merkt man, dass du ihn nicht kennst.«
    »Nun, ich werde ihn jedenfalls noch kennen lernen. Ab Montag gebe ich ihm nämlich Unterricht.«
    »Du gibst José Unterricht?«, fragte sie ungläubig.
    »Ja. Was ist daran so seltsam?«
    »Na nichts... Aber er wird dir den ganzen Sommer ruinieren. Er ist ein absoluter Taugenichts. Und außerdem ein Tunichtgut.«
    »Auf mich hat er nicht so gewirkt«, entgegnete ich. »Ich glaube, er ist nur ein wenig desorientiert und braucht jemanden, der ihm unter die Arme greift, das ist alles.«
    »Du kennst ihn einfach nicht, das ist ja mein Reden.«
    »Hör mal, habe ich dir schon gesagt, dass meine Eltern gestern nach Malaga gefahren sind?«, fragte ich sie unvermittelt.
    »Ja, hast du schon erzählt. Und was willst du damit sagen?«
    »Ich will damit sagen, dass wir bis morgen Abend sturmfreie Bude haben.«
    Ana sah mich durchdringend an und nahm meine Hand.
    »Sagst du das im Ernst?«
    »Und du? Denkst du das, was du gerade denkst, im Ernst?«
    »Ich glaube ja«, sie machte eine Pause. »Na gut: Ja!«
    Ich stand auf und begann, die Badetasche zusammenzupacken.
    »Was machst du denn?«
    »Ich dachte, wir gehen jetzt«, erwiderte ich.
    Ana machte ein erschrecktes Gesicht: »Jetzt? Aber... aber es ist doch erst fünf Uhr!«
    Ich rieb meine Nase an ihrer Nase: »Ich weieiß«, trällerte ich leise, »wenn dich das Licht stört, machen wir einfach die Fensterläden zu...«
    Es war das erste Mal, dass wir miteinander schliefen. Ich fühlte mich wieder glücklich.

    Seine langen wuscheligen Haare zeichneten sich vor dem Fenster deutlich im Gegenlicht ab. So saß er jeden Nachmittag da mit gesenktem Kopf, den Blick in seine Bücher oder Schulhefte vertieft. Ich stand neben ihm und betrachtete ausführlich die anmutige Kurve seines Nackens, das Profil seiner kleinen Nase, dieses in sich versunkene Gesicht, das sich von Zeit zu Zeit umwandte und mir zulächelte. Oder wir saßen nebeneinander, meine Hand ruhte auf seiner schmalen Schulter, während ich von unregelmäßigen Verben, Cervantes oder dem Dreißigjährigen Krieg redete. Meine Hand lag auf seiner Schulter und manchmal streichelte ein Finger wie von allein kurz und sanft den Stoff des Hemdes und schien die Zartheit der Haut darunter zu erraten, die so nah und doch so unerreichbar war. Manchmal, wenn er eine schwierige Übersetzung machte, ein Sonett analysierte oder sich im Datum der Schlacht von Trafalgar geirrt hatte, konnte sich meine Hand nicht beherrschen, strich durch die köstlichen Fluten seiner  Haare und vergrub sich darin, ohne zu wissen, wie sie wieder herausfinden sollte und doch gar nicht herausfinden wollte; während ich Latein, Geschichte, Literatur und beinahe sogar das Atmen vergaß, war ich nur noch bemüht, nicht einfach mit meinen Lippen seinen Kopf, seine Augen oder zumindest diesen langen schlanken Nacken zu berühren, der mich bis in den Schlaf verfolgte.
    So begann der Kampf zwischen dem verzweifelten
    Wunsch, dass diese beiden täglichen Nachmittagsstunden niemals enden mochten, um ihm weiterhin so nah zu sein und ihn für mich, nur für mich allein zu haben, und der Hoffnung, dass diese Qual, ihn nicht mit Küssen ersticken zu können, ihn nicht einmal umarmen oder seinen Kopf an meine Schulter drücken zu dürfen, so schnell wie möglich enden möge.
    »Wie komme ich voran?«, wollte er wissen.
    »Willst du die Wahrheit hören?«
    »Ah, so schlecht bin ich also«, sagte er gefasst.
    »Nein! Du kommst gut voran, wir kommen sehr gut voran.
    Ich bin jeden Tag fester davon überzeugt, dass wir es schaffen werden.«
    »Viel fehlt ja auch nicht mehr.«

    Das war richtig. Die Zeit bis zu den Prüfungen wurde immer knapper. Ich ertrug den Gedanken nicht, dass danach unsere gemeinsamen Nachmittage ebenso vorbei sein würden wie der Sommer und das Freibad und dass er dann wieder nur der Bruder meiner Freundin sein würde, wir uns kurz im Flur begegnen würden, ein Hallo und Ciao austauschen würden, mit einer stillschweigenden und freundlichen Dankbarkeit für die Nachhilfe; eine Dankbarkeit, die mit der Zeit ebenfalls  vorbeigehen würde, als wäre nie etwas geschehen. Aber was geschah denn in Wirklichkeit? Nichts. Es passierte gar nichts.
    Ein Typ gibt einem anderen jungen Typen Nachhilfe in Latein. Für ihn waren diese beiden Stunden
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