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Drift

Drift

Titel: Drift
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Namen er sich nicht erinnern konnte, obwohl er früher hundert Mal Heroin bei ihm gekauft hatte.
    »Hey!«, sagte der Dealer.
    Martin schaute sich um, peinlich berührt. Er hatte all den Typen eingeschärft, ihn unter keinen Umständen anzusprechen, wenn er nicht allein unterwegs war oder die Situation ihn irgendwie kompromittieren könnte, denn den Junkies sah man den Junkie auf |25| Meilen an und Martin wollte nicht mit solchen Gestalten gesehen werden, schließlich hatte es vor kurzem noch eine Zeit gegeben, da er gearbeitet und jederzeit von einem Kollegen oder einer Kollegin beim Drogenkauf hätte gesehen werden können; kein allzu wünschenswertes Szenario.
    Aber hold on, wait a minute, dachte Martin, schon im Begriff, sich umzudrehen und wortlos weiterzugehen, a) ich bin allein unterwegs, und b) so scheiße sieht dieser Typ nicht aus, im Gegenteil, vermutlich sogar besser als ich selbst im Augenblick. Also lächelte er und gab dem Dealer die Hand.
    »Hey.«
    »Brauchst du was?«, fragte der Dealer.
    Martin lächelte breiter, er lächelte das Lächeln des Überlegenen: Nein, er brauchte nichts. Er war clean und hätte es dem Dealer am liebsten auch mit einem schadenfreudigen Unterton ins Gesicht geschmiert, aber Tatsache war, dass man nie wusste, und deswegen sagte er nur:
    »Nein, danke, heute nicht.«
    »Okay, dann mach’s mal gut«, antwortete der Dealer, und Martin sah ihm hinterher, wie er sich unter die Menschen mischte, die an der neuen, hässlichen Haltestelle auf ein Tram Richtung Stadt oder stadtauswärts warteten, und verlor ihn sogleich aus den Augen. Er steckte die Stöpsel in die Ohren und startete die Wiedergabe, wo er sie zuvor angehalten hatte.
    Mit dem Zutatenzettel in der Hand und Juliens Stimme in den Ohren ging er einkaufen.

|26| GOLI OTOK
    Versicherungspapiere.
    Man denkt nicht an Versicherungspapiere, während man mit pochendem Herzen und zugeschnürtem Hals versucht, lautlos ein Auto aus der Garage zu bekommen. Versicherungspapiere und gewissenhafte Zöllner sind schuld daran, dass man ein zweites Mal wendet und bei der ersten Möglichkeit, neben der Straße anzuhalten, den Kopf auf dem Lenkrad beschließt, es irgendwie durch den Wald zu versuchen, Vierradantrieb sei Dank. Aber wie fährt man mit einem Auto durch einen Wald – ja wie kommt man überhaupt dazu?
    Zuerst mal muss man von der Straße runter, einen kleinen Weg finden, einen breiteren Forstpfad vielleicht oder eine Traktorspur, irgendetwas Befahrbares, und man darf unter keinen Umständen die Richtung aus den Augen verlieren – Krieg, Tod, Erlösung: Süd-Südost –, man muss die fiktive Grenzlinie im Kopf behalten und mit neunzig Grad erwischen, doch sollte einem das auch gelingen; wo, zum Henker, kommt man auf der anderen Seite raus? Irgendwo vor einer Schlucht, vermutlich, denkt’s, und nur ein Weg ist möglich – ein drittes Mal Wenden kommt nicht in Frage: Wenn-schon-denn-schon-Thelma-and-Louise.
    Blödsinn. Denken, überlegen, weniger träumen, mehr Whisky, und zwar subito, Cola hinterher, Kopf schütteln, Hirn einrenken: Die unmittelbare Gegend, sie ist, hofft man, weniger stark bewacht als die weiter weg, und so versucht man es nahe der Zollstelle, ein paar hundert Bäume weiter, man zählt sie: hundert, -neunzig, zweihundertdreizehn. Glaube besteht darin, dass man Realität damit verändern kann, und der Irrsinn darin, dass man ihn sofort findet, den Weg, den einen, der einen über die Grenze führen wird: Es ist ein Bauern-Traktoren-Esel-Weg, und der Mann, der nach etwa einem halben nierendurchrüttelnden und stoßdämpferquälenden |27| Kilometer an der Grenze in einem winzigen Häuschen sitzt, hört Radio und kümmert sich nicht drum, dass sich da etwas nähert: Okay, das Licht ist diffus, bemerkt man, vermutlich sieht er weder den Wagen noch das ausländische Nummernschild, und wenn, ignoriert er beides, keinen Bock, der Typ, und man könnte den Affen knutschen und schlagen dafür, schließlich könnte man auch ein Feind sein: Das vierradangetriebene weiße Vieh kraxelt weiter, im ersten Gang, man verbeult den Auspuff und malträtiert die Federungen, aber zwanzig Minuten später hat man wieder Asphalt unterm Gummi und es ist die Straße, auf der man schon vorher hätte sein sollen, man ist dort angekommen, wo die Autos fahren, die durch den Zoll gelassen wurden, die Versicherten, und es geht weiter, heiße Ohren, Euphorie, ein Herzschlag bis zum Hals, man ist fast zu Hause, in Slowenien zumindest, und trotz
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