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Drift

Drift

Titel: Drift
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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oder nicht, dort, wo der Zöllner schließlich, verzweifelt ob des Anblicks, den man ihm bietet, nach den Versicherungspapieren fragt statt danach, ob man getrunken habe aus der einen leeren oder der anderen halbleeren Flasche Whisky, die man provisorisch hinter dem Sitz versteckt hat, und man hat keine, wie man schnell feststellt, Versicherungspapiere, und man schaut ihn an, den jungen, müden Zöllner, der mit sich ringt und schließlich korrekt bleibt und einen mit nervös zuckenden Augen anschaut und sagt, er könne einen nicht rüberlassen, über die Grenze, hinein ins Getümmel.
    Man glaubt ihm nicht, nicht nach den letzten achtzehn Stunden, so etwas kann, so etwas darf nicht sein, man will ankommen, raus aus dem Wagen und sich hinlegen, ausstrecken, nur für ein paar Stunden, einen klaren Gedanken fassen und am nächsten Morgen halb nüchtern, aber zielstrebig bei einer Kaserne oder einem Rekrutierungsbüro anklopfen, doch er lässt kein Argument zu, der junge, müde Zöllner; zurück, wenden, sorry, es tut ihm leid, und man glaubt ihm das sogar.
    Und doch könnte man heulen vor Wut und Frustration, und dass man gesagt bekommt, man solle es weiter oben, etwas weiter im Norden versuchen, vielleicht lasse einen jener Zöllner durch, ändert |18| nichts daran. »Warum?«, fragt man. Warum sollte jener einen durchlassen, wo man doch bei ihm nicht durchgekommen ist? Keine Antwort – er weiß sie nicht, er will sie nicht wissen; er will einen loswerden.
    Vielleicht ruft er den nördlichen Kollegen ja an, redet man sich ein, und sagt ihm, er solle bei dem jungen Kerl im kleinen, weißen (!) Auto nicht nach den Versicherungspapieren fragen und ihn einfach durchlassen, aber man weiß, das wird nicht geschehen, und eine Stunde später steht man wieder in der Kolonne, diese ist kürzer. Man schaut sich die Gegend an, bewundert die bizarren Felsen, die, rot von der eisenhaltigen Erde, in der untergehenden Sonne dunkelorange leuchten, und man ist sehr entspannt, als man endlich an der Reihe ist; entweder man wird durchgelassen oder man verbringt noch eine Nacht auf einem Parkplatz irgendwo im Niemandsland oder am Waldrand nahe der Grenze, wo man sich wenigstens den Hintern nicht abfrieren wird, und tatsächlich geschieht, was nicht geschehen soll: Versicherungspapiere. Bitte.

|19| LIMMATPLATZ
    Julien war weg und Martin klappte sein Notizbuch zu. Er winkte der Kellnerin und klaubte sein Portemonnaie mit zittrigen Fingern aus der Jackentasche, nach vier Kaffees in etwa so nüchtern wie nach einer durchzechten Nacht.
    »Achtzehn.«
    Martin gab ihr einen Zwanziger und sagte, sie könne den Rest behalten. Nicht sonderlich beeindruckt vom Trinkgeld schlurfte sie durch die dunkle Bar zum Tresen und Martin hörte das »Katsching« der Kasse und das Klimpern vom Kleingeld, das sie in ihr Trinkgeldglas warf, was ihn auf Umwegen daran erinnerte, dass er außer seinem Projekt noch andere Verpflichtungen hatte und einkaufen gehen musste.
    Seit Martin seine letzte Stelle verloren hatte – »Verloren, was heißt verloren«, hatte Helena damals gesagt, »sie ist dir nicht abhanden gekommen, irgendwie, du hast ihn nicht verlegt, deinen Job, weil du unachtsam warst, nein, sie haben dich rausgeschmissen, weil du ein arroganter Scheißer bist!« –, war Martin Hausmann. Und als solcher unter anderem auch für Staubsaugen, Wäschewaschen und, natürlich, die Zubereitung des Abendessens zuständig.
    Nicht, dass ihm das etwas ausmachte oder dass er sich seiner hausmännischen Pflichten schämte, im Gegenteil. Er fand, in einer modernen Beziehung und angesichts der Wirren des heutigen Lebens mussten beide Partner flexibel und imstande sein, die vorgegebene, veraltete Rollenverteilung zu überdenken und, wenn nötig, neu zu definieren. Dass das gesellschaftlich belächelt wurde, war ihm mittlerweile egal: Bis auf die zwei Jugendfreunde, mit denen er sich regelmäßig auf ein Bier traf, waren seine Kontakte zu Mitmenschen ohnehin auf einen kümmerlichen Rest geschrumpft und beschränkten sich auf Floskeln gegenüber alten Menschen im Tram und beim Überqueren der Straße: »Darf ich Ihnen mit der Tasche |20| helfen?« – »Kommen Sie, es ist grün, ich begleite Sie über die Straße.«
    Aber das war ein Zustand auf Zeit: Sobald das »Projekt Julien« abgeschlossen war, wäre alles wieder wie früher und Helena würde diese Zeit schnell vergessen. Er würde sie auf Händen tragen und verwöhnen, wie die Prinzessin, die sie in seinen Augen
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