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Drift

Drift

Titel: Drift
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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zündet Feuerwerke der Euphorie und man fährt nicht zu schnell und freut sich des Lebens.
     
    An der Raststätte angekommen, gibt man sich Mühe, nicht allzu high zu wirken, obwohl man innerlich bis über beide Ohren grinst: Man versucht, die Augen offen zu behalten, obwohl man sich hinlegen und in einen LSD-ähnlichen Rausch verfallen könnte, aber man schafft es, die zwei Flaschen Whisky, die Chips, das Sandwich (Mineralwasser ist auf dieser Reise nicht gefragt) und die Coca-Cola, mit der man den Whisky notfalls verdünnen will, an die Kasse zu tragen, ohne irgendwas davon fallen zu lassen. Irgendwie gelingt es einem, sich ruhig zu verhalten, während die Verkäuferin an der Kasse einen sehr, sehr durchdringend ansieht und sich dabei denkt, dass man solche Scheißtypen nicht auf die Straße lassen dürfte, weil sie doch immer die Falschen umbringen, Mütter mit ihren Kindern hinten drin oder junge Menschen überhaupt, sie selbst vielleicht, nach Feierabend – hat man je davon gehört, dass Politiker oder Mafiosi bei Verkehrsunfällen ums Leben kommen?
    Bevor beide sich weitere Gedanken darüber machen können, was für ein mieser Arsch man doch ist, hat man ihr schon das Geld in die Hand gedrückt (zum Glück nehmen sie im Nachbarland auch Nachbarsgeld), hat das Wechselgeld eingesteckt und ist mit den Getränken, dem Knabberzeug und seinem Silvesterkopf verschwunden.
    Natürlich beginnt man nicht auf dem Parkplatz der Raststätte zu trinken, man könnte von Polizisten erwischt oder von einem übereifrigen Bürger angezeigt werden (und sei es nur aus Prinzip und weil der Säufer im parkierten Auto, anders als man selbst, jung und kein italienischer Säufer ist), also macht man, dass man so schnell |16| wie möglich die Chipstüte aufreißt und griffbereit positioniert, die Whiskyflasche öffnet, wieder schließt und zwischen Sitz und Handbremse klemmt – zum ungebremsten Zugriff.
     
    Dann kommen die fünf Stunden quer über Land – eine Strecke, die man schon hundert Mal gefahren ist, achtzig davon hinten drin, im Auto der Eltern, ein paar Mal allein oder mit dem Bruder oder der Freundin, und immer ging’s in die Ferien. Jetzt geht’s in den Krieg, denkt man sich, und das Leben um einen herum scheint allzu ungeniert und teilnahmslos angesichts der Tatsache, dass Menschen sterben, nicht irgendwo, Tausende von Meilen weit entfernt (was an der Tragödie nichts ändern würde), nein, keine drei-, vierhundert Kilometer weiter südöstlich sterben sie, auf der anderen Seite der Grenze da vorn, wo man entweder ankommen und Menschen töten oder sich selbst töten lassen wird; vielleicht tut man es auch gleich hier, mitten auf der Autobahn, man könnte einen Mafioso oder korrupten Politiker erwischen, der Verkäuferin an der Tankstelle zuliebe, ein Schlenker nach links oder rechts und die Autos wickeln sich um einen der Pfeiler, auf denen diese Autostrada-(wie heißen die Dinger noch mal?)-Raststätten stehen, und es ist vorbei, fertig, aus, vorbei der Schmerz, die Angst, das junge Leben.
     
    Pathetisches, ekelhaftes Selbstmitleid. Furchtbar: Hätte man The Smiths mitgenommen, man würde sich für die zweite Variante entscheiden, aber aus den Boxen scheppern die Red Hot Chili Peppers, volle Lautstärke, und die Aggression und die Kraft der Musik obsiegen und eines steht fest: Man wird zur Grenze gelangen, wird dem Zöllner sagen, man sei freiwillig da, wolle in den Krieg und auf der Seite seiner Landsmänner und Landsfrauen gegen den Aggressor kämpfen, und der Zöllner wird bestätigend nicken und einem alles Gute wünschen.
    Kaum ist der Entschluss gefasst, dem Krieg die Wahl zu überlassen, kommen die Bilder: Man sieht sich in Kampfuniform im |17| Matsch liegen, verdreckt und blutig die Kugeln und Granaten ignorieren, die um einen herum einschlagen, zurückschießen und Feinde eliminieren, man sieht seine Eltern, wie sie einen während des Fronturlaubs besorgt am Telefon fragen, wie es einem geht, und Vater trotz aller Sorge den Stolz nicht verbergen kann, dass ihr Sohn, obwohl er nicht in seinem Heimatland geboren wurde oder dort lebt und deswegen ins Militär einrücken musste, sich freiwillig entschieden hat und jetzt, in diesem Moment, im Heimatkrieg all das verteidigt, was ihn und seine Kultur ausmacht.
     
    Das Auto ist klein, ein Zweit- oder Drittwagen, aber man holt aus ihm raus, was geht. Nicht übertrieben rücksichtslos, nicht übertrieben halsbrecherisch, man will ankommen, dort, wo man hingehört
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