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Am Ende des Tages

Am Ende des Tages

Titel: Am Ende des Tages
Autoren: Robert Hültner
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1.
    Valentin wagte nicht zu atmen. Das Geräusch, das ihn aus dem Schlaf geschreckt hatte, klang noch in ihm nach. Ein papierenes Knistern. Ein Marder oder ein anderes Nachttier, das sich im Spalier unter dem Fenster verfangen hatte? Hungriges Wild aus dem bereits seit Wochen verschneiten Hochwald? Oder nur das Dachgebälk, das, obschon uralt, noch immer arbeitete und beim Wechsel der Jahreszeiten manchmal ein helles Knacken hören ließ?
    Der junge Bauer kannte all diese Geräusche seit seiner Kindheit. Nie hatten sie ihn beunruhigt oder gar in Panik versetzt. Was war los mit ihm? So schreckhaft wie in letzter Zeit war er doch nie gewesen? Oder warnte ihn sein Instinkt zu Recht? Auch wenn die mörderischen Raubüberfälle, die sich in den Jahren nach dem Krieg gehäuft hatten, zurückgegangen waren – wer wie er mit seiner kleinen Familie außerhalb des Dorfes wohnte, musste vor lichtscheuem Gesindel durchaus noch immer auf der Hut sein.
    Wieder hielt er die Luft an. Er lauschte, die Finger in die Bettdecke gekrallt. Durch die bedampften Scheiben sickerte aschfarbenes Licht in die Schlafkammer.
    Nach einer Weile atmete er aus. Er war einfach überreizt, das war alles. Der gestrige Arbeitstag hatte Kraft gekostet, der Abtransport der gefällten Stämme aus dem steilen und durchweichten Gelände des Bergwalds war lebensgefährlich gewesen. Erst nach Anbruch der Dämmerung hatten sie die letzte Fuhre abliefern können. Danach hatte er mit dem Sägewerksbesitzer um seinen Lohn feilschen müssen. Harsche Worte waren gefallen. Es hatte Valentin mitgenommen, er stritt nicht gerne. Mit schmerzenden Gliedern war er nachhause gestapft, wo er nur noch die allernötigste Stallarbeit erledigt, das Nachtbrot hinuntergeschlungen und einige Worte mit seiner Frau gewechselt hatte, um kurze Zeit später erschöpft in das Bett zu fallen.
    Valentin kippte den Kopf zur Seite und betrachtete die schlummernde Frau zu seiner Rechten. Sie sah abgezehrt aus. Das Mondlicht tiefte Kerben in ihre Wangen. Aus ihren geöffneten, rissigen Lippen drang ein schabendes Geräusch. Es versetzte ihm einen Stich. Thekla war noch keine dreißig.
    Noch immer lebte das Bild in ihm, wie er sie, bei einem der ersten Kirchweihfeste nach dem Krieg, zum ersten Mal gesehen hatte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sie, eine sichere Abfuhr erwartend, stotternd um einen Tanz bat. Sie war heftig errötet, hatte die Augen gesenkt, und, nachdem sie einen verstohlenen Blick in ihre Umgebung geworfen hatte, mit einem scheuen Lächeln eingewilligt.
    Sie waren noch nicht lange verheiratet, als sich erste Schatten über das Glück der jungen Familie legten. Wie viele andere im Dorf hatte auch Valentin sein weniges Erspartes verloren, nachdem der Kassierer der örtlichen Raiffeisenbank sämtliche Einlagen privat verspekuliert hatte. Die geringen Erträge gingen noch weiter zurück, die Schuldenlast des Hofs wuchs. Eine graue Verhärmtheit hatte sich über ihr Leben gestülpt. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Valentin versucht, sich daran zu erinnern, wann er Thekla zuletzt lachen gehört hatte. Es hatte ihm nicht einfallen wollen, und vergeblich hatte er darüber nachgedacht, wie es ihm gelingen könnte, sie wieder glücklich zu sehen. Bis ihm eine unerwartete Fügung zu Hilfe gekommen war.
    Und bald würde alles gut werden. Valentin wurde ruhig. Seine Glieder entkrampften sich. Eine Weile lauschte er noch der raunenden Stille um ihn. Er zwinkerte. Dann fielen ihm die Augen zu.
    In diesem Augenblick hörte er es wieder. Ein helles Knistern. Wie Schritte auf reifhartem Gras. Jetzt trieb es Valentin hoch. Er schlug die dampfende Tuchent zurück. Jedes Knarren der hölzernden Bettstatt vermeidend, wälzte er sich aus dem Bett. Durch eine abgewetzte Stelle seiner Bettsocken spürte er die Kälte der Bohlen. Er warf einen Blick auf seine Frau und auf das kleine Bettchen an ihrer Seite. Auch der Kleine schlief tief und fest.
    Valentin zog die Türe zur Kammer behutsam hinter sich zu, wartete einige Atemzüge, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. In seinem Nachthemd schlotternd, tastete er sich auf dem Flur voran, fand die Hauslampe, machte Licht und betrat die Treppe zum Erdgeschoss. Vorsichtig setzte er Schritt vor Schritt in die Tiefe. Die Kerzenflamme flackerte und warf verzerrte Schatten an die Wand.
    Plötzlich schnürte ihm das Gefühl einer namenlosen Bedrohung die Kehle zu. Wie von einem Faustschlag in die Eingeweide getroffen, krümmte er
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