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Drift

Drift

Titel: Drift
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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zurück.«
    Man will nicht unhöflich sein, aber man widerspricht, von wegen |32| Sicherheit und Familie und Freundin und das sei alles nicht so, wie es scheine oder sein solle, und Verwandte habe man hier außerdem auch und es mache sowieso keinen Unterschied, lieber einen schnellen und sinnvollen Tod als ein langsames, jahrzehntelanges Dahinkrepieren im Bewusstsein, zum richtigen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen zu sein, und das sei jetzt einfach so und man könne nicht anders und müsse hier sein, hier und nirgends sonst.
     
    Nach einer Weile scheint es, als ob man verstanden worden ist, aber vielleicht sind es auch nur die Promille, denn während man gemeinsam den Whisky trinkt (die halbe Flasche ist schnell auf fünfzehn kleine Gläschen verteilt), beginnt einer der älteren Soldaten, derjenige, neben den man anfangs gesetzt und von dem man mit Essen versorgt wurde, von seinem ersten großen Liebeskummer zu erzählen, statt einem eine Moralpredigt zu halten, die man ebenso gut von seinen Eltern hätte haben können. Er krempelt den Ärmel hoch und zeigt einem vier fingerdicke Narben, die quer über seinen linken Unterarm verlaufen; so etwas, sich umbringen wollen, das mache keinen Sinn, sagt er, und gehe die Eine, komme eine Andere, die Richtige, und man dürfe sich nicht das Leben nehmen, es sei zu wertvoll. Und in den Krieg zu ziehen, freiwillig, schön und gut, aber hauptsächlich ungefragt, ja ungebeten und ohne Ausbildung sogar unwillkommen, sei, wie bei Tempo zweihundert das Lenkrad herumzureißen, nur um herauszufinden, wie das sei und ob man überleben werde, und man erzählt dem Soldaten nichts vom Mafioso-Politiker, den man nach der ersten Flasche Whisky auf der Autostrada zwar gesucht, aber leider nicht gefunden und erwischt hat, sondern man protestiert und sagt, so sei das nicht, man fleht ihn und alle anderen an, zu verstehen.
    Natürlich weiß man, dass er recht hat, dieser Mann, Vater, Bruder, Onkel, Ehemann und Überlebende, der so offen über etwas so Intimes wie einen misslungenen Selbstmord spricht, aber man bringt es nicht raus, kann es nicht sagen, kann nicht zugeben, dass man |33| das Schicksal provozieren will und einem durch die freiwillige Teilnahme am Krieg eventuell der Selbstmord abgenommen wird, aber es ist auch nicht nötig, es zuzugeben, es auszusprechen, denn alle wissen, was in einem vorgeht und dass es keinen Sinn macht, darüber zu reden – zumindest nicht jetzt, mitten in der Nacht, während man kaum noch die Augen offenhalten und zusammenhängend denken kann, also lassen sie einen in Ruhe und befehlen einem, sich hinzulegen.
    Das zugewiesene Sofa steht alt und verbeult direkt hinter dem Tisch vor dem von innen und außen verriegelten und mit Holzverschlägen abgedichteten, lichtundurchlässigen Fenster, und man kippt um, wie ein gefällter Baum, und tritt weg, noch während sich die Augen schließen, und man träumt schon, von Wäldern und Schluchten, Autobahnunfällen und Zöllnern, bevor die dicke Wolldecke, die einem übergeworfen wird, den Körper berührt.

|34| HOTELZIMMER
    »Nummer 32, dritter Stock, erste Tür links.«
    Die junge Blondine hielt Martin lächelnd den an einer Messingplakette befestigten Schlüssel hin und er nahm ihn und steckte ihn in die Tasche seiner abgewetzten braunen Lederjacke, die Helena so hasste. Aber was Helena hasste oder nicht, konnte ihm egal sein, jetzt, wo sie mit ihm Schluss gemacht hatte.
    »Danke«, sagte Martin und schulterte den schweren grauen Seesack, in dem sich befand, was er zum Überleben brauchte: ein paar Lieblingsbücher, ein Querschnitt an Kleidung, Rasierzeug und Zahnbürste. Den Rest seiner Sachen hatte er in Schachteln verpackt und mit Helenas Einverständnis vorübergehend bei ihr im Keller verstaut.
    Er hängte sich die Tasche mit Laptop, Dokumenten und seinen Papieren über die andere Schulter und ging in Richtung Aufzug.
    Während der paar Schritte zum Lift sah er in dessen auf Hochglanz polierten Messingtüren, wie das professionelle, künstliche Lächeln der Rezeptionistin zu einem hässlichen Mund mit nach unten verzogenen Winkeln zerfiel, kaum hatte er sich umgedreht. Sie tippte etwas in den Computer und sah Martin verstohlen hinterher.
    Vermutlich macht sie Notizen für ihre Kollegen, dachte er. Etwas wie: Rechnung sofort bezahlen lassen! Oder: Vorsicht, könnte abhauen! Vielleicht auch nur: Geld?
    Martin drückte auf den Knopf und wartete. Ihm war schlecht und schwindlig. Nach dem achtundvierzigstündigen
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