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Drift

Drift

Titel: Drift
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Dauerexzess mit seinem neuen besten Freund Fred musste er sich dringend hinlegen und ausschlafen irgendwie wieder zu Kräften kommen.
    Ein Bimmeln und die Tür öffnete sich.
    Im Aufzug ein Bild wie aus einem Pitigrilli: Aus der rundherum bespiegelten Kabine sprang Martin ein unrasiertes, ungepflegtes Gesicht entgegen; mit schwarzen Ringen unter den Augen und einem |35| riesigen, blutverkrusteten Pflaster auf der linken Wange starrte es ihn an, bis Martin den Kopf senkte und das Horrorkabinett betrat. Was hatte er nur wieder mit sich angestellt.
    Er drückte den Knopf für den dritten Stock und machte den Fehler, aufzuschauen, bevor die Tür zu war, denn kaum hatten sich die Türflügel in Bewegung gesetzt, trafen ihn noch einmal die kalten Augen und das falsche Lächeln der Blondine. Aber so gerne Martin auch zurückgelächelt hätte, ebenso falsch oder noch falscher, er hatte nicht die Kraft dazu. Die Tür schloss sich, und anstelle des falschen Lächelns der Rezeptionistin klatschte Martin die Reflexion eines Mannes ins Gesicht, die er nur schwerlich akzeptieren konnte: Sein Spiegelbild, jetzt nicht mehr nur fahl und eingefallen, sondern verzerrt vom schimmernden Messing, hatte eine grässlich kränklich-grüngelbe Tönung und tote Augen.
    Hotels, entschied er, kamen nicht in Frage. Aus finanziellen ebenso wie aus menschlichen und messingtechnischen Gründen; sollte Martin keine eigene Wohnung gefunden haben, bis Fred aus den USA zurückkam, würde er sich wieder eine Witwe suchen, eine reizende, zurückhaltende Alte wie Frau Juric, die ihre knappe Rente mit dem Vermieten der Zimmer ihrer längst ausgezogenen Kinder aufbesserte und sich über jeden Gast freute; kein Lächeln, wenn sie es nicht fühlte, und Messing höchstens in Form von kleinen Figürchen in der Vitrine und auf dem Salontisch im Wohnzimmer.
    Diese Witwenwohnkultur war in der Schweiz zwar nicht so ausgeprägt wie in anderen Ländern und den meisten Küstengebieten der Welt, wo man problemlos eine Schlummermutter finden konnte, aber Fred hatte Martin versichert, der Auftrag würde ein halbes Jahr dauern, daher musste er sich den Kopf jetzt noch nicht zerbrechen.
    »Und sechs Monate«, sagte Martin laut zu seinem grüngelben Messinggegenüber, »sind ja wohl Zeit genug, um dich und dein Leben neu zu organisieren. Oder zumindest ein Dach über dem Kopf.«
    Ein zweites Bimmeln und Martin warf seinen Seesack über die |36| Schulter und verließ den Aufzug. Bestimmt ein Loch, dachte er, als er den schlecht beleuchteten Gang entlangwankte.
    Er fand die Nummer 32, fummelte die Messingplakette aus seiner Jacke und öffnete die Türe. Mit einem Schritt stand er schon mitten im Zimmer.
    Scheiß drauf, dachte er, ist nur für eine Nacht.
    Er schloss die Tür, lehnte den Seesack dagegen und warf einen Blick ins Bad. Das Übliche: neben dem Bett ein Schrank und ein kleiner Tisch mit einem alten Fernseher drauf. Das Fenster hatte zwei Flügel und war einigermaßen groß, die Aussicht jedoch deprimierend. Aber was kümmerte es ihn, ob er Bäume oder die Belüftungsschächte des Gebäudes gegenüber sah, die in keinen zwei Metern Entfernung von seinem Fenster vor sich hinrosteten; er war nicht mehr am Meer und auch nicht bei Helena. Also fuck it.
    Und das mit Helena würde er ändern, musste er ändern, anders würde es nicht funktionieren – sein Leben. Doch jetzt musste er schlafen. Der Blick auf die Uhr sagte kurz nach zwei. Er schaute sich nochmals im Zimmer um und ihm fiel auf, wie dunkel es drinnen war, obwohl draußen die helle Nachmittagssonne schien.
    Er zog die Jacke aus, streifte die Stiefel ab und legte sich mit ausgebreiteten Armen und Beinen in die Mitte des Bettes. Es dauerte keine zehn Sekunden und Martin schwamm in einer Flut von Bildern; er versuchte, diejenigen mit der sommerlichen Mittelmeerstadt Zadar und seiner Ankunft dort festzuhalten und alles andere auszublenden, und es gelang seinem zwei Tage und Nächte lang mit Dutzenden Gramm Kokain und Heroin und Flaschen Whisky zugepuderten, zugerauchten und sintflutartig überschwemmten, nur die lebensnotwendigsten Körper- und Kommunikationsfunktionen kontrollierenden, ansonsten vollends unbrauchbaren Gehirn zu seinem unermesslichen Erstaunen problemlos, sich auf diesen einen, gewünschten Erinnerungsstrom zu konzentrieren und sich darin treiben zu lassen, in jenen Mittwochnachmittag Anfang Juni einzutauchen, als er, gerädert von den sechzehn Stunden im engen |37| Sitz, den klimatisierten Bus
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