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Dreimal Liebe

Dreimal Liebe

Titel: Dreimal Liebe
Autoren: Carina Bartsch
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gebunden hatte und zusammen mit einem dünnen Bambusstock einmal quer durchs ganze Haus gestolpert war. Das Ergebnis war eine dicke Beule am Kopf und eine kaputte Vase – das vorsichtige Tasten mit einem Stock wollte erst mal gelernt sein, und sie hatte sich nicht unbedingt als Naturtalent herausgestellt.
    Aufgeben wollte sie aber dennoch nicht – im Gegenteil. Bis heute wiederholte sie diese Prozedur mindestens zweimal die Woche. Sie wollte sich fühlen, wie er sich fühlte. Sie wollte wissen, wie er seine Umwelt wahrnahm, wollte herausfinden, wie die Dinge auf einen wirkten, wenn man sie nicht sehen, sondern nur ertasten oder gar erahnen konnte. Diese Erfahrungen waren ungewohnt, teilweise sogar beängstigend für sie. Trotzdem wollte sie es immer wieder versuchen. Doch das Gefühl, gescheitert zu sein, holte sie jedes Mal ein wie eine Lawine. Sie würde sich nie so fühlen können, wie er sich fühlte, weil sie die Augenbinde jederzeit wieder abnehmen konnte. Etwas, was Tobias bis an sein Lebensende verwehrt blieb. Dieser Gedanke stimmte sie traurig, zumindest einerseits … denn andererseits: Besaß Tobias damit nicht auch ein riesengroßes Geschenk? Er konnte nach seinem Herzen urteilen, nach seinen Instinkten, ohne sich durch Äußerlichkeiten beeinflussen zu lassen. Wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, dann beneidete sie ihn dafür sogar ein bisschen.
    Inzwischen schämte sie sich für das Mitleid, das sie ihm anfangs entgegengebracht hatte. Jeden anderen Jungen hätte Anna neutral kennengelernt, aber Tobias konnte sie nur mit großem Bedauern gegenübertreten. Wie dumm, dachte sie sich. Sie hatte ihm gar nicht die Chance gegeben, sich zu behaupten, sondern ihn automatisch in die Schublade des armen Jungens gesteckt. Wie musste er sich fühlen, wenn er von allen so behandelt wurde? Anna stellte es sich schrecklich vor, wenn man immer der Besondere war – nicht der Besondere, weil man durch außerordentliche Fähigkeiten herausragte, sondern weil man sich durch ein Defizit oder eine Beeinträchtigung von anderen Menschen unterschied. Ein Mangel, ein »Du bist nicht so wie wir, deswegen tust du uns leid«.
    Dabei war Tobias so viel mehr als nur ein blinder Junge – zumindest glaubte sie das, vielmehr noch: sie spürte es. Egal wo er auftauchte, sie musste ihm mit dem Blick folgen, betrachtete seine große Gestalt, studierte seine Bewegungen, die Mimik und blasse Haut seines schmalen Gesichts, fuhr mit dem Blick über seine Wangenknochen, sein Kinn, die Augenpartie, die er immerzu mit einer schwarzen Sonnenbrille verdeckte, seine haselnussbraunen und schläfenlangen Haare. Sie fragte sich, welche Augenfarbe er hatte, welche Wünsche und Träume er in seinem Kopf hegte, womit er seine Freizeit verbrachte, was er alles zu erzählen hatte und wie sein Alltag aussah. Anna war schon so vielen Jungs in ihrem Alter begegnet, doch noch niemand hatte sie so sehr fasziniert und neugierig gemacht wie Tobias. Irgendetwas war anders bei ihm. Irgendetwas, das sie davon abhielt, die Augen von ihm abwenden zu können.
    Manchmal, so absurd es auch klang, hatte Anna den Eindruck, er würde ebenfalls in ihre Richtung »sehen«. Durch die Sonnenbrille konnte Anna nie genau sagen, ob seine Augen tatsächlich auf sie gerichtet waren, aber sein Gesicht war ihr des Öfteren zugewandt. Genau wie in diesem Moment auch, als sie beide im selben Unterrichtsraum saßen und gleichermaßen Herrn Halbeck und sein herausragendes Talent, jede noch so interessante Geschichte absolut langweilig wiederzugeben, ausblendeten.
    Es war gemein so etwas zu denken, dachte sich Anna, aber sie hatte sich hin und wieder bei der Frage erwischt, ob Tobias wirklich blind war. Eigentlich wusste sie ganz genau, dass er wirklich blind war – niemand würde so etwas vorspielen. Doch sie konnte sich einfach nicht erklären, warum es manchmal so schien, als würde er sie geradewegs anschauen.
    Vielleicht, überlegte sie sich, hörte Tobias einfach auf seinem rechten Ohr besser und hatte deswegen den Kopf leicht gedreht? Wahrscheinlich wäre das eine sehr naheliegende und logische Erklärung. Zumindest saß sie in den meisten Fächern jeweils links von ihm.
    So oft hatte sie sich vorgenommen, auf ihn zuzugehen und »Hallo« zu sagen – doch im letzten Moment hatte sie immer wieder der Mut verlassen. Anna fiel es nicht besonders leicht, mit Fremden in Kontakt zu treten, und bei Tobias stellte es sich noch mal als viel schwieriger heraus. Wie sollte man
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