Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dreimal Liebe

Dreimal Liebe

Titel: Dreimal Liebe
Autoren: Carina Bartsch
Vom Netzwerk:
die Schule bekommen, weswegen er auf das Zählen größtenteils verzichten konnte und sich nur mit seinem Stock, den er nah über dem Boden leicht von links nach rechts schweifen ließ, absicherte, damit er die Begrenzungen spüren konnte und nirgendwo gegenlief.
    Anna war frustriert bis obenhin, weil sie – obwohl sie es tunlichst vermeiden hatte wollen und es allein ihrer Vergesslichkeit zu verdanken hatte – nun doch noch direkt an einem breit grinsenden Jakob Dürling vorbei musste, der ihr im Gang entgegenkam. Blamiert senkte sie den Kopf und erhöhte das Tempo, um ihn möglichst schnell passieren zu können, und eilte die letzten verbleibenden Meter zurück zum Klassenzimmer. Sie rauschte durch die offenstehende Tür und prallte urplötzlich gegen etwas Hartes. Das »Harte« gab unter Annas enormen Schwung nach, taumelte nach hinten und verlor das Gleichgewicht. Anna, deren Herz vor Schreck bis zum Hals schlug, konnte sich selbst ausbremsen, musste im gleichen Moment aber machtlos mit ansehen, wie Tobias mit dem Rücken hart gegen einen Tisch prallte, hilflos mit den Armen ruderte, den Stuhl, den er dabei wahllos erwischt hatte, mitriss und mit seinen Hintern voran auf dem Boden aufschlug. Annas Arme hatten sich noch reflexartig nach ihm ausgestreckt, doch sie hatte ihn nicht mehr erreichen können. Geschockt über das, was sie angerichtet hatte, schlug sie die Hände vor dem Mund zusammen.
    »Oh mein Gott!«, sagte sie mit geweiteten Augen und sprach mehr zu sich selbst als zu Tobias. Sie stand da wie angewachsen und wurde kreidebleich im Gesicht. Erst Tobias‘ schmerzverzerrtes Stöhnen schaffte es, sie nach ein paar Sekunden aus der Starre zu holen. »Oh Gott, das tut mir so leid«, stammelte sie und fiel neben ihm auf die Knie, unsicher, ob sie ihn anfassen sollte oder lieber nicht. »Ich wollte das nicht … Ich … Ich hab dich nicht gesehen, ich wollte durch die Tür … Und dann warst du plötzlich da. Das war nicht meine Absicht gewesen. Es tut mir so schrecklich leid! Ist dir was passiert? Hast du Schmerzen?«
    Tobias versuchte sich zu orientieren, wusste nicht, wo oben noch unten war, und hatte Schwierigkeiten zu realisieren, was geschehen war. Gerade eben war er noch gestanden, hatte mit nichts gerechnet und im nächsten Moment befand er sich plötzlich auf dem Boden. Es war alles so schnell gegangen. Dass es die Stimme von dem Mädchen, von seinem Mädchen war, die da verzweifelt auf ihn einredete, begriff er erst verzögert.
    »Ich …«, murmelte er verstört und brach ab, tastete stattdessen mit seiner Hand an seinen Rücken, wo er immer noch die Kollision mit der Tischkante spüren konnte. Die Stelle pochte und wurde ganz warm.
    »Ist es sehr schlimm? Soll ich dich ins Krankenhaus bringen?« Anna war überfordert mit der Frage, was sie tun und was sie nicht tun sollte, und blickte hilflos um sich. Unter dreihundert Schülern auf dieser Schule hatte sie ausgerechnet Tobias umrennen müssen. »Erfolgreich einen Blinden ausgeknockt« gab mit Sicherheit keine guten Karmapunkte. Nein, ganz gewiss nicht.
    Tobias kam mehr und mehr zu sich, wurde sich dem Ausmaß seiner erbärmlichen Situation deutlicher bewusst. Anna, ausgerechnet Anna, war in ihn hineingelaufen und hatte ihn kurzerhand niedergestreckt. Er hatte sich nicht einmal auf seinen Beinen halten können. Wie lächerlich musste er auf sie wirken? Es war bei weitem nicht das erste Mal gewesen, dass Tobias hingefallen war, aber noch nie hatte er sich so sehr dafür geschämt wie heute.
    »Nein, es ist nichts passiert«, beantwortete er Annas Frage forsch, und genauso forsch und überstürzt begann er sich aufzurappeln. Anna wich zurück, gleichzeitig erschrocken und versteinert. Sie hievte sich ebenfalls auf die Füße, was ihr ein bisschen leichter fiel als Tobias, der seine Umgebung erst einmal abtasten musste. Weil er so unbeholfen wirkte, fasste Anna an seinen Oberarm, um ihm eine Hilfestellung zu geben, doch Tobias, der von der Berührung zusammenzuckte, schüttelte ihre Hand von sich ab. Tobias war Körperkontakt nicht gewohnt. Die einzigen Menschen, die ihn anfassten, waren seine Eltern.
    »Es geht schon«, presste er durch die Zähne und schaffte es schließlich, wieder auf seinen Beinen zu stehen.
    Anna bemerkte seine Wut, hatte aber keine Ahnung, dass er diese gegen sich selbst und nicht gegen sie richtete. Vollkommen überfordert mit der ganzen Situation beobachtete sie, wie Tobias nach seinen Sachen tastete, die er bei dem Sturz
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher