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Dreimal Liebe

Dreimal Liebe

Titel: Dreimal Liebe
Autoren: Carina Bartsch
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in seinem Ausdruck widerspiegelte. Anna hätte so gerne seine Augen dazu gesehen, doch seine dunkle Brille verwehrte ihr den Blick.
    Dennoch, das, was sie sah, reichte aus, um sich von ganzem Herzen zu wünschen, dass dieses erste Lächeln nicht auch automatisch das letzte bedeute.
    Und sie sollte Glück haben.
    Als sie sich am Montag in der Schule zum ersten Mal wieder begegneten, nahm Anna all ihren Mut zusammen und grüßte Tobias, was dieser zurückhaltend aber freundlich erwiderte.
    Eine ganze Woche hielten sie diese Gewohnheit bei, bis ein acht Tage später stattfindendes Chemiexperiment, das sie dank Jakob Dürlings Krankheitsausfall zusammen bewerkstelligen mussten, die beiden erneut zusammenführte. Die ersten fünfzehn Minuten waren von unbehaglicher Stille erfüllt, doch durch das Experiment, das sich als ziemlich kniffelig herausstellte und letztlich auch schief ging, waren sie nach und nach in ein zaghaftes Gespräch verfallen.
    Von diesem Zeitpunkt an lernten sie sich tagtäglich ein bisschen näher kennen. Anna mochte seine ruhige, angenehme Art; Tobias war so anders, als die üblichen Jungs in seinem Alter. Auch seine Ausdrucksweise, sowie seine charmanten und höflichen Charakterzüge waren für die heutige Zeit manchmal ein bisschen ungewohnt, aber für Anna war das nur ein weiterer Grund, um ihn noch faszinierender zu finden. Tobias las viel und hatte eine unglaubliche Allgemeinbildung. Jedes Mal, wenn er was sagte, wirkten seine Worte bis ins kleinste Detail durchdacht. Anna hing förmlich an seinen Lippen, konnte weder von seiner Stimme noch von dem Inhalt seiner Sätze genug bekommen. Tobias war zweifelsohne intelligent. Aber er wirkte nicht streberhaft oder dergleichen, Tobias’ Intelligenz wirkte weise und irgendwie … anziehend, sexy. Auch wenn das mit Sicherheit das Letzte war, worüber er sich bewusst war, vermutete Anna.
    Um ehrlich zu sein, lief nicht immer alles rund. Gerade in den ersten Wochen traten leichte Schwierigkeiten und häufige Missverständnisse zwischen den zweien auf. Tobias kannte keine Mimik, wusste oft nicht, wie Anna ihre Worte meinte, wenn ihre Tonlage zu wenig verriet und er das leichte Lächeln auf ihren Lippen nicht lesen konnte. Genauso wie Anna Probleme damit hatte, Tobias’ Gesichtsausdrücke richtig zu deuten. Inzwischen wusste sie, dass ein leichtes Kopfsenken bei ihm bedeutete, dass er aufmerksam zuhörte – und nicht, wie sie anfangs vermutete, dass er gelangweilt von ihren Worten ein Nickerchen hielt. Durch Tobias wurde Anna zum ersten Mal richtig deutlich, wie sehr Körpersprache normalerweise in Unterhaltungen mit einfloss.
    Auch sonst lernte sie sehr viel dazu. Im Umgang mit Tobias gab es viel zu beachten. Es ging nun mal nicht, dass sie in eine Richtung zeigte und er ihr mit dem Blick folgen konnte, oder dass sie ihm einen Gegenstand reichte, ohne – wenn sie keinen steifen Arm bekommen wollte – das vorher angekündigt zu haben.
    Wie wichtig Ordnung für einen Blinden war, musste Anna auf die harte Tour erfahren, als Tobias zum ersten Mal – ungefähr zwei Monate nach ihrem Zusammenprall – bei Anna zu Hause war und über eine achtlos herumliegende Schuhschachtel in ihrem Zimmer stürzte.
    Anna war bei weitem kein unaufmerksamer Mensch, am allerwenigsten, wenn es um Tobias ging. Doch es war einfach ein Ding der Unmöglichkeit, jahrelange und unterbewusste Gewohnheiten von heute auf morgen abzulegen. Es waren viele Kleinigkeiten. Kleinigkeiten, die für Tobias ziemlich bedeutend sein konnten.
    Mit der Zeit aber gewöhnten sie sich an die neuen Umstände, lernten, dass sie Rücksicht aufeinander nehmen mussten, und die Fehlpässe, die für beide Seiten jedes Mal mehr als unangenehm waren, verringerten sich immer mehr. Tobias begann zum ersten Mal in seinem Leben in der Gegenwart eines anderen Menschen, der nicht zu seiner Verwandtschaft oder Familie gehörte, sich wohl zu fühlen. Er wollte nicht lügen, aber dass Anna mindestens genauso oft wie er ein Getränk verschüttete oder wie auf dem Schulfest mit ihrer besten Hose in eine schlammige Pfütze trat, spielte dabei auch eine gewisse Rolle. Der ewige Gram auf sich selbst schwand ein bisschen, denn wenn einer sehenden und unbeschreiblichen Person wie Anna die gleichen Missgeschicke wie ihm im Alltag passierten, war er vielleicht doch nicht so ein hoffnungsloser Fall. Bei Anna wirkte das alles sogar irgendwie niedlich, so wie alles an ihr niedlich wirkte. Nein, eigentlich traf es niedlich nicht.
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