Dreimal Liebe
dem, was er besaß. Anna hatte Tobias zu einem reichen Menschen gemacht.
»Woran denkst du?«, fragte Anna, die ihren Blick vom Himmel abgewandt hatte und ihn schon eine Weile über Tobias’ gedankenvertieftes Gesicht schweifen ließ.
Tobias konnte hören, wie nah ihre Stimme klang, und drehte seinen Kopf zur Seite, um ihn Anna zuzuwenden. Normalerweise hielten sie immer einen gewissen körperlichen Abstand zueinander, berührten sich kaum. Doch heute hatte Anna sich so viel näher neben ihn als sonst gelegt, hatte ihn sogar hin und wieder mit ihrem Arm gestreift. So ein kleiner Kontakt mag für manch andere bedeutungslos sein, aber nicht für Tobias. Vor allem nicht, wenn es um Anna ging.
»Ich habe daran gedacht, wie schön du bist«, gestand er leise. Er konnte zwar nicht sehen, dass ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seinem entfernt war, aber es ganz deutlich spüren. Sein Herz hatte schon begonnen schneller zu schlagen, noch ehe er die letzten Ausläufer ihres warmen Atems auf seiner Haut gefühlt hatte.
Annas Blick senkte sich. Doch dieses Mal drehte sie ihren Kopf nicht weg von ihm wie üblich, wenn er ihr eins dieser seltsamen Komplimente machte.
»Woher willst du wissen, dass ich schön bin?«, fragte sie leise.
»Ich kann es vielleicht nicht sehen, aber ich fühle es.« Seine Stimme war so rein und klar, als könnte sie Unehrlichkeit noch nicht einmal buchstabieren.
»Könntest du sehen, dann würdest du solche Mädchen wie Judith Gruber hübsch finden. Genau, wie jeder andere aus der Schule – und vermutlich auch der ganze Rest der Welt.«
Judith Gruber trug genau die Sorte von Rock, von der ein unsichtbarer Zipfel herunterhing, den jeder Junge aus der Schule greifen wollte. Tobias würde es wahrscheinlich ebenso ergehen, deswegen wollte sie fair zu ihm sein.
»Judith Gruber?« Tobias zog die Stirn in Falten, als er an die neugewählte Schülersprecherin dachte. »Judith ist arrogant, oberflächlich, zickig und hat eine schrille Stimme. Warum sollte ich sie mögen?«
»Würdest du sie sehen, wüsstest du es.«
»Anna«, sagte Tobias. »Ich könnte dich niemals hässlich finden.«
Anna war bewusst, dass Tobias so eine Aussage eigentlich nicht treffen konnte, weil er nichts anderes als sein Leben, in dem Optik nicht von Belang war, kennengelernt hatte. Trotzdem hüllte sich ein warmes Gefühl um ihr Herz … Irgendetwas lag in seinen Worten verborgen, das es ihr unmöglich machte, ihnen keinen Glauben zu schenken.
Ein heimliches Strahlen legte sich um Annas Züge, und auch auf Tobias’ Lippen schlich sich ein leichtes Lächeln, so als könnte er Annas in seinem Herzen sehen und käme nicht umhin, es zu erwidern. Sie wussten es nicht, aber sie hatten beide den gleichen Gedanken, der ihre Gefühlsregung ausgelöst hatte.
Tobias drehte sich auf die Seite, wandte sich Anna nun komplett zu und schob seine flache Hand unter die Wange. Anna tat es ihm nach, sah ihn einfach nur an, während für einen langen Moment eine angenehme Stille zwischen den beiden einkehrte. Es gab keinen Menschen, dem sie mehr vertraute. Sie vertraute ihm so sehr, dass es ihr Angst machte.
Hätte Tobias nur einen Wunsch frei, nur für wenige Sekunden die Möglichkeit, sehen zu können, er würde Anna wählen. Sie solange anschauen, bis die Finsternis ihn wieder einholen und ihn für den Rest seines Lebens begleiten würde. Nur Anna sehen. Einmal. Und niemals würde er ihren Anblick vergessen. Sie wäre das Erste und das Letzte, was sich für immer in seine Augen einbrennen würde.
Doch sein Wunsch würde niemals in Erfüllung gehen.
Würde er Anna überhaupt erkennen? Er hatte, von Umarmungen abgesehen, nur eine vage Vorstellung, wie seine Mitmenschen aussahen, hatte nur ein schwaches Bild, wie Annas Gesicht und Körper geformt waren. Sie hatte es ihm beschrieben, als er sie darum gebeten hatte … aber wie sollte er all die kleinen Bausteine zusammensetzen, wenn er nicht einmal so etwas Grundlegendes wie Farben kannte?
Um genau zu sein, brachte er mit Menschen eigentlich nur ein Gefühl in Verbindung. Ein richtiges Bild, so wie ein Sehender dieses Wort meinen würde, besaß er nicht. Dazu fehlte ihm die Vorstellungskraft, weil er keinerlei Anhaltspunkte besaß. Es war in etwa so, als würde ein Physiker einem Nichtblinden die Welt der Elementarteilchen näher bringen wollen. Dass zum Beispiel ein Fels gar nicht so eine feste, konstante Masse ist, wie es auf uns den Eindruck macht, sondern aus Milliarden einzelnen
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