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Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2

Titel: Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
Autoren: PeP eBooks
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andere auch. Sie wohnt an einem kalten, leeren, abgeschlossenen Ort.
    Ihre Hand tastet unter die Mäntel, ihren eigenen und den von Gaston, den sie um die Schultern hat. Sie fühlt nach ihrem zerschnittenen Kragen. Die offene Wunde.
    Sie fahren die wenigen Kilometer schweigend.
    Leonie fühlt die Spannung, die Erwartung, die zwischen ihnen dreien schwelt. Sie fühlt Isabelles Blicke von hinten, sie lasten schwer, traurig und erwartungsvoll auf ihr, als würde eine Hand auf ihrem Nacken, auf ihrem Haar liegen.
    Schloss Hermeneau. Gaston biegt auf den geräumigen Innenhof ein, zieht die Bremse. Er greift vorn an Leonie vorbei und öffnet die Tür, und sie steigt aus, immer noch seinen Mantel um die Schultern, und steht wartend da, ohne sich zu rühren, bis er neben ihr ist, den Koffer in der Hand.
    In der Eingangstür taucht für einen kurzen Augenblick die gedrungene Gestalt von Clémence auf, der rötliche Haarknoten, die Schürze – dann verschwindet sie wieder; Clemence, die Zugehfrau aus dem Ort. Die kann sie, Leonie, nicht leiden, weil sie eine »Boche« ist, eine Deutsche, und Clémence’ Mann ist im Krieg gegen die Deutschen vor fünf Jahren, 1918, gefallen.
    Sie registriert das alles, erkennt es wieder, ohne etwas dabei zu empfinden.
    Gaston berührt sie sacht am Arm. »Ich bring dich in dein altes Zimmer, Leonie. Bist du hungrig? Durstig?«
    Sie schüttelt den Kopf.
    »Ruh dich aus und dann ... «
    »Ich muss mich nicht ausruhen. Ich hab auf der Fahrt Ruhe genug gehabt.«
    Sie sieht, dass Isabelle in der Eingangshalle stehen bleibt, während Gaston, den Koffer in der Hand, sie in das schöne Gastzimmer begleitet, in dem sie auch beim ersten Mal gewohnt hat. Wie selig sie war in diesem großen Raum, das breite Bett, das eigene Badezimmer, damals ...
    »In Isabelles Boudoir, ja?«
    Gaston nickt. Er wirkt bedrückt. »Wenn du aber erst ... « »Ich will es hinter mich bringen.«
    Hinter sich bringen. Wie eine unliebsame Aufgabe, eine Pflichtübung. Was ein Glück und ein Fest sein sollte.
    Als Gaston gegangen ist, nimmt sie ihren Koffer, stellt ihn auf die kleine Sitzbank, überzogen mit weißem Schleiflack, und öffnet die Schnallen. Ganz unten, unter ihrer Wäsche, eingewickelt in eine Wolljacke, liegt eine abgeschabte alte Geldbörse, wie sie die Marktfrauen benutzen. Sie holt sie heraus und öffnet den Verschluss.
    Die blaue Seide. Da ist es. Sie nimmt es in beide Hände, fühlt die Form durch den Stoff.
    Es ist hart und kalt. Sie hat nicht das Bedürfnis, es anzuschauen. Ein Buchstabe aus Gold, weiter nichts.
    »Nimm es, es gehört dir. «
    Hat das jemand gesagt? Hier ist keiner. Auch nicht einer. Niemand außer ihr.
    Sie legt das Ding auf ihr Bett, geht ins Bad, wäscht sich Gesicht und Hände, fährt sich mit der Schildpattbürste, die bereit liegt, durchs Haar. Wirft einen kurzen Blick auf ihr Spiegelbild. Das ovale Gesicht, gleichgültig irgendwie. Blass, das schon. Aber hinreichend gelassen, hoffentlich. Die Gelassenheit, den Abstand,den sie braucht, um diese Geschichte zu erzählen, als wäre es eine fremde Geschichte, die nicht sie betrifft. Sonst kann sie es nicht erzählen.
    Die Augen dunkle Abgründe, mit malvenfarbenen Ringen. Viel Schminke wäre nötig auf der Bühne. Aber diese Bühne hat aufgehört zu existieren.
    Weg. Alles ist weg.
    Leonie nimmt ihr Mitbringsel auf und begibt sich zum Turm, beginnt, die Stufen zu ersteigen. Da oben, mit Blick in alle vier Himmelsrichtungen, liegt das Zimmer, das man hier Isabelles Boudoir nennt. Eigentlich ist es so etwas wie ein kleiner Tempel, in dem hebräisch beschriebene und bunt illustrierte Pergamente, Thorarollen, goldene und silberne Kultgegenstände aufbewahrt werden, bunt und funkelnd und fremdartig. Und Isabelle ist die Hüterin all dieser Dinge und all des alten Wissens ihres Volkes.
    Leonie öffnet die Tür und tritt ein.
    Alle Vorhänge sind zugezogen. Weder Himmel noch Landschaft dringt heute herein in diesen Raum. Eine Wabe, alle vier Seiten geschlossen. Kerzen brennen im siebenarmigen Leuchter mit hoher heller Flamme.
    Gaston sitzt im Hintergrund auf einem Berg buntfarbiger Kissen; er ist nur Zuschauer bei dem, was jetzt geschehen wird. Aber was von ihm ausgeht, das kann sie, Leonie, fühlen: Gaston hat Furcht. Furcht vor dem, was jetzt geschehen kann, geschehen könnte.
    Isabelle dagegen steht in der Mitte des Zimmers, gerade, den Hals gereckt. Ihr schwarzes Kleid fließt an ihr herab wie ein nächtlicher Wasserfall. Das lockige Haar hat
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