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Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)

Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)

Titel: Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
Autoren: Alice Alderwood
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sichern, ihr alle seid bereit, euer junges Leben dem Wohlergehen aller Menschen hier im Westlichen Reich zu opfern. Ich danke euch dafür! Welche von euch auch immer heute den schweren Gang hinaus zu den Himmelsbergen antreten muss, sie kann stolz darauf sein, ihrem Land diesen Dienst erweisen zu können!«
    Der König neigte leicht seinen Kopf, eine erprobte Geste. Eine der jungen Frauen, die genau vor der Tribüne des Hofstaates stand, fiel auf die Knie, schlug sich die Hände vor das Gesicht und begann lauthals zu schluchzen. Offenbar hielt sich ihre Begeisterung in Grenzen.
    »Wachen, öffnet das Tor und lasst die Hand des Schicksals herein!«, rief Fernek.
    Janica spürte, wie sich in ihrem Hals ein dicker Kloß festsetzte. So fühlte es sich also an, wenn man auf der Speisekarte eines Drachens stand! Gespannt beobachtete sie die Wachsoldaten, die gerade die schweren Torflügel aufschoben und in dem Gedränge eine Gasse bis zur Lostrommel bahnten. Janica wusste, dass die Hand des Schicksals durch all die Väter und Mütter, die draußen vor dem Schloss um ihre Töchter bangten, ausgewählt wurde. Dieser eine Mensch, der eines der Mädchen für den Opfertod auswählen sollte, musste erhaben sein gegen jeden Verdacht der Manipulation.
    Da endlich stolperte eine Gestalt zum Tor herein. Einer der Reisigen fing den alten Mann auf, der sich kaum auf den Beinen halten konnte. Die Prinzessin erkannte den zerlumpten Bettler, der oft an der Zufahrtsstraße zum Königspalast kauerte und um Almosen bettelte. Eine gute Wahl für die Hand des Schicksals – der Mann war blind!
    Zwei der Soldaten trugen ihn mehr, als dass sie ihn führten, durch das Spalier der jungen Frauen. Endlich griff der Viehknecht dem Ochsen ins Geschirr, endlich verstummte das bedrohliche Rasseln der Lostrommel. Der Bettler wurde auf das Podest geleitet, und der sichtlich aufgeregte Zeremonienmeister sprach leise auf den Alten ein. Janica hielt den Atem an, als der Blinde heftig den Kopf schüttelte. Weigerte er sich etwa, eine der Loshülsen aus dem Lostopf zu nehmen?
    Der Zeremonienmeister gestikulierte heftig, seine Worte wehten nicht bis zur Tribüne des Königs herüber, aber er schien verzweifelt, denn noch immer schüttelte der alte Mann den Kopf und hob jetzt gar abwehrend die Hände.
    Janica zuckte erschrocken zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass sich ihr Bruder erhoben hatte und an die Balustrade der Tribüne getreten war. Das leise singende Geräusch, mit dem das Schwert in seiner Hand aus der Scheide glitt, ließ die Prinzessin erschauern. Ferinic sah furchterregend aus, wie er so dastand und die Waffe erhob. Das Spiel seiner kräftigen Armmuskeln war unter dem eng anliegenden Prunkhemd deutlich zu sehen, seine stahlblauen Augen blitzten vor Ungeduld und der Wind zauste sein schulterlanges Blondhaar, das von einem schmalen Goldreif nach hinten gehalten wurde. Er war wirklich ein beeindruckender Mann, nur leider eben auch Janicas Bruder.
    Ferinic zeigte mit dem blanken glänzenden Stahl auf den sich widersetzenden Alten.
    »Zeremonienmeister, sage diesem Trottel, wenn er jetzt kein Los auswählt, komme ich zu ihm hinunter und schlage ihm den nutzlosen Kopf ab!«
    Der Blinde vor der Lostrommel ruckte mit dem Kopf wie ein hilfloses Vogeljunges, das aus dem Nest gefallen war. Dann ließ er sich vom Zeremonienmeister zu der Öffnung des Lostopfes führen. Mit beiden Händen befühlte er die Namenshülsen. Alle Gesichter hatten sich der Hand des Schicksals zugewandt, ein jeder schien den Atem anzuhalten.
    »Mein Sohn!« Der König räusperte sich leise. Ferinic schob das Schwert bedächtig wieder in die mit kostbaren Goldfiligranen verzierte Scheide zurück.
    »Verzeiht mir, Herr Vater, mein Handeln war unbedacht!« Der Prinz setzte sich wieder an seinen Platz, wie alle anderen starrte er auf die Loshülse, die der Bettler jetzt gut sichtbar für alle in seiner Hand nach oben hielt. Der Zeremonienmeister nahm sie ihm ab und öffnete die hölzernen Schalen mit einer leichten Drehung vor aller Augen. Mit spitzen Fingern zupfte er das Pergament aus dem Inneren. Das alles tat er mit ausgestreckten Armen und hochgeschobenen Mantelärmeln, damit ihm niemand vorwerfen konnte, er habe das Los heimlich ausgetauscht. Nun ließ er die leere Hülse einfach fallen und entrollte den kleinen Pergamentstreifen.
    In atemloser Stille verharrte die Menge. Warum verlas der Zeremonienmeister nicht endlich den Namen der Unglücklichen, die noch an diesem Abend in
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