Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
1

    Im ersten heftigen Herbstregen, als die Blätter wie Münzen zu Füßen der Bäume lagen und die Zweige schwarz vor einem tiefhängenden Himmel glänzten, kehrten einige Männer aus dem Dorf Lacaune in der Languedoc frierend und nass und ohne Beute von der Jagd zurück, als sie vor sich im trüben Licht eine menschliche Gestalt erblickten. Es schien sich um ein Kind zu handeln, um einen vollkommen nackten Jungen, dem Kälte und Regen offenbar nichts ausmachten. Er war mit etwas beschäftigt – wie sich herausstellte, hatte er Eicheln zwischen zwei Steinen geknackt – und bemerkte die Männer zunächst nicht. Doch dann trat einer – Messier, der Dorfschmied, dessen Hände und Unterarme durch die harte Arbeit so dunkel geworden waren wie die eines Indianers – in ein Loch, verlor das Gleichgewicht und stolperte ins Blickfeld des Jungen. Die plötzliche Bewegung schreckte ihn auf. Eben war er noch da und hockte über seinem kleinen Vorrat an rohen Eicheln, und im nächsten Augenblick war er mit der Gewandtheit eines Marders oder Wiesels im Unterholz verschwunden. Nachher war sich keiner der Männer ganz sicher – die Begegnung hatte nur Sekunden gedauert –, doch stimmten alle überein, dass die Gestalt auf allen vieren geflohen war.
    Eine Woche darauf wurde der Junge abermals gesehen, diesmal am Rand eines Feldes, wo er Kartoffeln ausgrub und, ohne sie zu kochen oder auch nur abzuspülen, an Ort und Stelle hinunterschlang. Der erste Impuls des Bauern war, ihn zu verscheuchen, aber er hielt inne, denn er hatte Gerüchte von einem wilden Kind gehört, einem Kind des Waldes, un enfant sauvage , und schlich dann näher, um dieses Phänomen besser in Augenschein nehmen zu können. Er sah, dass der Junge tatsächlich noch klein war, höchstens acht oder neun Jahre alt, und mit bloßen Händen und abgebrochenen Nägeln in der Erde wühlte wie ein Hund. Äußerlich schien er normal zu sein, er konnte seine Glieder und Hände gebrauchen und war zu geschmeidigen, selbständigen Bewegungen imstande, dabei aber erschreckend mager. Als der Bauer auf etwa zwanzig Meter herangekommen war, hob der Junge den Kopf und sah ihn an. Wegen des wilden Haarschopfs, der ihm ins Gesicht hing, waren seine Züge nur schwer zu erkennen. Nichts regte sich, nicht die Schafe auf dem Hügel und nicht die Wolken am Himmel. Eine unnatürliche Stille lag über dem Land: Die Vögel in den Hecken hielten den Atem an, der Wind erstarb, ja selbst die Insekten verstummten. Dieser unverwandte Blick – die Augen, so schwarz wie frisch gebrühter Kaffee, das Fletschen bräunlich verfärbter Zähne – war der Blick eines Wesens aus dem Spiritus Mundi : fremd, gestört, hassenswert. Es war der Bauer, der sich abwenden musste.
    So begann es. Eine Legende entstand; sie dampfte und köchelte im Herbst des Jahres 1797, des fünften der neuen Republik, und bis ins Frühjahr des darauffolgenden Jahres in jedem Topf des Distrikts. Der Terror war vorüber, der König war tot, und das Leben kehrte – insbesondere in der Provinz – zur Normalität zurück. Die Menschen brauchtenein Geheimnis in ihrem Leben, den Glauben an etwas Unerklärliches, Wunderbares, und viele von ihnen – Pilzsammler und Trüffelsucher, Eichhörnchenjäger und Bauern, gebeugt unter der Last von Reisigbündeln oder Körben voller Zwiebeln und Rüben – hielten im Wald die Augen offen, doch erst im nächsten Frühjahr wurde der Junge erneut gesehen, diesmal von drei Holzfällern, angeführt von dem Schmied Messier, und diesmal verfolgten sie ihn. Sie jagten ihn, ohne nachzudenken, ohne einen Grund, sie jagten ihn, weil er vor ihnen davonrannte. Sie hätten ebensogut etwas anderes jagen können, eine Katze, eine Hirschkuh, ein Wildschwein. Schließlich kletterte er auf einen Baum, wo er fauchend an den Ästen rüttelte und und die Männer mit Zweigen bewarf. Jedesmal, wenn einer von ihnen versuchte, den Baum zu erklettern und den schwieligen Fuß des Jungen zu packen, wurde er getreten und gebissen, bis sie beschlossen, ihn auszuräuchern. Unter dem Baum wurde ein Feuer entzündet, und aus dem tiefen Schlupfwinkel seiner Augen heraus beobachtete der Junge die drei Zweibeiner, diese zottigen, gewalttätigen, seltsam bepelzten, plappernden Tiere. Man stelle sich ihn vor, wie er auf den höchsten Ästen saß, die Haut so zerkratzt und zerschunden, dass sie wie ein schlecht gegerbtes Stück Leder wirkte, die Narbe an der Kehle wie ein gebleichter Riss, sichtbar sogar vom Boden aus, mit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher