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Drachenschiffe vor Vinland

Drachenschiffe vor Vinland

Titel: Drachenschiffe vor Vinland
Autoren: Alfred Bekker
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hohe Gras. Jeder Schritt raschelte. Plötzlich stieß sein Fuß gegen etwas Festes. Wie vom Donner gerührt blieb er stehen. Aus dem Gras starrte ihm ein buntes Geistergesicht mit großen Augen und einem Wolfsmaul entgegen.

Der geheimnisvolle Pfahl
    Einar hielt die Luft an. Sein Herz klopfte wie wild. Aber er konnte nicht einmal schreien.
    »Einar? Was hast du?«, rief Freya.
    Einar legte den Zeigefinger auf seinen Mund und schüttelte den Kopf. Freya verstand. Sie sollte still sein. Irgendetwas stimmte hier offenbar nicht.
    Sehr vorsichtig und fast lautlos näherte sie sich ihrem Bruder. Dann zuckte auch sie zusammen. Im letzten Moment konnte sie einen Schrei unterdrücken.
    Vor ihnen lag das fratzenhafte Gesicht im Gras und schien sie wie ein böser Geist anzustarren. Erst einen Moment später wurde den beiden klar, dass es aus dem Holz eines Baumstamms herausgeschnitzt und dann angemalt worden war. Dieser Pfahl lag umgestürzt in der Wiese und war noch mit vielen weiteren Gesichtern bedeckt. Ein paar eigenartige Zeichen waren auch zu sehen – aber obwohl Einar die Runenschrift noch nicht besonders gut lesen konnte, war ihm sofort klar, dass
dies
keine Runen waren.
    »Gehen wir schnell zu den anderen«, sagte Einar leise.
    Freya nickte. Ihr Gesicht war weiß.
    So schnell ihre Beine sie trugen, rannten sie zurück. Ganz außer Atem berichtete Einar seinem Vater, was er gesehen hatte. Sven Bleichhaar war gerade dabei, mit Orm und ein paar anderen Männern einen Stamm zu spalten. Er runzelte die Stirn. »Ein Holzpfahl mit Geistergesichtern? Den haben die Kundschafter nicht bemerkt.«
    »Kein Wunder, er lag ja auch flach im Gras. Ich bin fast darüber gestolpert«, sagte Einar.
    »Diese Gesichter sahen so böse aus!«, sagte Freya mit Furcht in der Stimme. »Die hatten bestimmt Zauberkraft!«
    »Ich frage mich eher, wer sie geschnitzt hat!«, mischte sich Orm ein. Er zuckte mit den Schultern. »Kann sein, dass das schon lange her ist, aber wer weiß das schon. Hört mal, ihr zwei müsst uns diesen Pfahl unbedingt zeigen!«
    »Ich gehe nicht noch einmal dorthin!« Freya schüttelte heftig den Kopf. »Nicht zu diesen bösen Gesichtern!«
    »Und was ist mit dir?«, fragte Sven Bleichhaar an Einar gewandt. Er sah im fest in die Augen.
    Einar schluckte und atmete tief durch. Die Geisterköpfe und seltsamen Gesichter waren schon sehr unheimlich gewesen. Andererseits waren sie nur aus Holz. Er zuckte die Schultern.
    »Ich würd’s nicht machen«, warnte Freya. Ihre Augen waren weit vor Schreck. »Wer weiß, was die Fratzen für Zauberkraft haben!«
    »Doch, ich tu’s«, sagte Einar und spürte dabei ein Ziehen im Bauch.
    »Gut so«, lobte ihn Sven und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Nimm dir unsere alten Götter zum Vorbild! Odin zum Beispiel! Er sammelt die gefallenen Krieger in seiner Festhalle Walhall, um mit ihnen und den anderen Göttern in die Schlacht gegen die Riesen zu ziehen – obwohl er weiß, dass die viel stärker sind und siegen werden!«
     
    Drei Männer begleiteten Einar, Sven und den einäugigen Orm. Alle trugen ihre Schwerter, Streitäxte und Schilde. Schließlich konnte niemand wissen, was sie dort im Wald erwartete.
    Einar führte sie zur Lichtung und zeigte ihnen den Pfahl. Der einäugige Orm berührte eins der Gesichter mit der Schwertspitze. Erst etwas vorsichtig, dann stach er tiefer in den Holzstamm.

    »Also, wenn dieses Ding hier Zaubermacht hat, dann kann sie nicht besonders stark sein«, meinte er. »Der Pfahl war in die Erde gerammt.« Er deutete auf das zugespitzte Ende des Pfahls, an dem noch Erde klebte. Dann ließ er sich auf die Knie nieder und betrachtete die Schnitzereien genauer. Von den Wolfszähnen einer der Geistermasken zupfte er etwas, das aussah wie ungesponnene Wolle. Orm roch daran. »Ein Hirsch war hier! Die reiben sich oft an Bäumen oder an so einem Pfahl!«
    »Deswegen ist er umgestürzt!«, stellte Sven fest.
    »Jedenfalls ist es eine gute Nachricht, dass es hier offenbar Hirsche gibt«, fand Orm. »Das bedeutet, dass unsere Mahlzeiten demnächst noch etwas abwechslungsreicher werden!«
    »Aber diesen Pfahl muss doch jemand geschnitzt haben!«, rief Einar. »Was sind das für Menschen gewesen?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Sven. »Vielleicht ist dies ein heiliger Platz, an dem sie zu ihren Göttern beten oder ihre Toten bestatten?«
    In diesem Augenblick zischte etwas durch die Luft. Haarscharf schoss ein Pfeil über Einars Kopf hinweg. Er blieb zitternd
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