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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer
Autoren: Khaled Hosseini
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Dieses ganze Gerede über die Sünde hat mich wieder durstig gemacht, ein Scotch ist jetzt genau das Richtige.«
    Ich sah zu, wie er sich sein Glas an der Bar füllte und fragte mich, wann wir wohl das nächste Mal so wie gerade eben miteinander sprechen würden. Denn ehrlich gesagt, hatte ich immer das Gefühl, als würde Baba mich ein wenig hassen. Und warum auch nicht? Schließlich hatte ich ja seine geliebte Frau getötet, seine schöne Prinzessin. Da hätte ich doch zumindest den Anstand besitzen können, ein klein wenig mehr nach ihm zu geraten. Aber ich geriet nicht nach ihm. Ganz und gar nicht.
    In der Schule spielten wir des Öfteren ein Spiel namens Sherjangi, »Die Schlacht der Gedichte«. Der Farsi-Lehrer übernahm dabei die Leitung, und es ging so: Man musste einen Vers aus einem Gedicht aufsagen, und der Gegner hatte sechzig Sekunden Zeit, mit einem Vers zu antworten, der mit demselben Buchstaben begann, mit dem man aufgehört hatte. Alle aus meiner Klasse wollten mich in ihrer Mannschaft haben, denn mit elf konnte ich schon Dutzende von Versen aus den Werken von Khayyam, Hafis oder auch aus Rumis berühmtem Masnawi aufsagen. Einmal habe ich es mit der ganzen Klasse aufgenommen und gewonnen. Als ich Baba am Abend davon erzählte, nickte der nur und murmelte: »Gut«.
    Mit Hilfe der Bücher meiner Mutter entkam ich der Unnahbarkeit meines Vaters. Und natürlich mit Hilfe von Hassan. Ich las alles: Rumi, Hafis, Saadi, Victor Hugo, Jules Vernes, Mark Twain, Ian Fleming. Als ich mit den Büchern meiner Mutter durch war - nicht mit den langweiligen Geschichtsbüchern, die mochte ich nie besonders, sondern mit den Romanen, den Epen -, begann ich, mein Taschengeld für Bücher auszugeben. Ich kaufte ein Buch pro Woche in dem Buchladen in der Nähe des Park-Kinos und bewahrte die Bücher in Pappkartons auf, als mir der Platz in den Regalen ausging.
    Natürlich war es eine Sache, eine Dichterin zu heiraten, aber einen Sohn zu zeugen, der es vorzog, den Kopf in Gedichtbände zu stecken, statt auf die Jagd zu gehen ... Nun, das hatte sich Baba wohl nicht so vorgestellt, nehme ich an. Echte Männer lasen keine Gedichte - und Gedichte schreiben, Gott bewahre, das taten sie schon gar nicht! Echte Männer -echte Jungs - spielten Fußball, genau wie Baba es in seiner Jugend getan hatte. Das war etwas, wofür man eine Leidenschaft entwickeln konnte. 1970 nahm Baba einmal Urlaub vom Bau des Waisenhauses und flog für einen Monat nach Teheran, um sich die Spiele der Weltmeisterschaft im Fernsehen anzuschauen, da es zu der Zeit in Afghanistan noch keine Fernseher gab. Er meldete mich für Fußballmannschaften an, um die gleiche Leidenschaft in mir zu wecken. Aber ich war erbärmlich schlecht, eine tollpatschige Belastung für meine eigene Mannschaft, stand ständig einem guten Pass im Weg oder blockierte unabsichtlich ein freies Schussfeld. Ich trottete auf dürren Beinen über das Spielfeld, schrie nach Pässen, die nie in meine Richtung kamen. Und je mehr Mühe ich mir gab, hektisch mit den Armen fuchtelte und kreischte »Ich bin frei! Ich bin frei«, desto mehr wurde ich ignoriert. Aber Baba gab nicht auf. Als es nur zu offensichtlich wurde, dass ich nicht die kleinste Spur seiner sportlichen Talente geerbt hatte, machte er sich daran, mich in einen leidenschaftlichen Fußballfan zu verwandeln. Das würde ich doch wohl schaffen, oder nicht? So lange wie möglich spielte ich den Interessierten. Ich brach mit ihm in Jubel aus, wenn Kabuls Mannschaft einen Treffer gegen Kandahar erzielte, und schrie Beschimpfungen, wenn der Schiedsrichter eine Strafe gegen unsere Mannschaft verhängte. Doch Baba spürte meinen Mangel an aufrichtigem Interesse und fand sich mit der trostlosen Tatsache ab, dass sein Sohn niemals Fußball spielen oder ein Anhänger dieses Spiels werden würde.
    Als ich neun war, nahm mich Baba zu dem jährlichen Buzkashi-Turnier mit, das am Frühlingsanfang, am Neujahrstag, stattfand. Buzkashi war und ist die nationale Leidenschaft Afghanistans. Ein chapandaz, ein überaus geschickter Reiter, der für gewöhnlich von reichen Anhängern des Turniers gefördert wird, muss sich mitten im Gedränge einen Ziegen- oder Rinderkadaver greifen, ihn auf sein Pferd heben und dann in vollem Galopp durch das Stadion reiten und den Kadaver in einen Zielkreis fallen lassen, während ihn eine Mannschaft aus weiteren chapandaz jagt und alles in ihrer Macht Stehende tut - treten, kratzen, peitschen, schlagen -, um ihm den
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