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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer
Autoren: Khaled Hosseini
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vergessen, dass er trotz allem immer noch ein Kind war.
    Der grüne Drachen griff an. »Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren«, sagte ich. »Wir lassen ihn noch ein bisschen rankommen.« Er sackte ein Stück tiefer und rückte immer näher. »Na, komm doch. Komm zu mir«, flüsterte ich.
    Der grüne Drachen stieg wieder ein Stück, sodass er nun schräg über dem unseren schwebte. Der Junge am anderen Ende der Schnur ahnte offenbar nicht, dass er mir in die Falle tappte. »Pass auf, Suhrab. Ich zeige dir jetzt einen Lieblingstrick deines Vaters.«
    Neben mir atmete Suhrab schnell und in flachen Stößen durch die Nase. Er hielt die Spule fest gepackt. Unter der vernarbten Haut seiner Handgelenke traten die Sehnen wie Kordeln zum Vorschein. Einen Moment lang sah ich die Hände eines Jungen mit Lippenspalte vor mir, die Schwielen und aufgerissenen Nägel. Ich hörte eine Krähe krächzen und schaute nach oben. Geblendet vom Licht, wähnte ich mich in eine verschneite Parklandschaft versetzt und glaubte, dicke weiße Flocken von den Zweigen der Bäume rieseln zu sehen. Ich roch Steckrüben. Getrocknete Maulbeeren. Orangen. Sägemehl und Walnüsse. Die Stille im schalldämpfenden Schnee war betäubend. Dann hörte ich jenseits dieser Stille einen Ruf aus der Ferne, die Stimme eines Mannes, der sein rechtes Bein hinter sich herzog.
    Der grüne Drachen stand jetzt direkt über dem unseren. »Er will's wissen. Gleich ist es so weit«, sagte ich, wieder ganz bei der Sache.
    Der grüne Drachen zögerte. Verharrte in der Luft. Stieß dann herab. »Jetzt!«, rief ich.
    Mein Konter war perfekt. Und das nach all den Jahren. Ich zerrte kurz an der Schnur und ließ unseren Drachen unter dem grünen Angreifer wegtauchen, um ihn gleich darauf mit einer schnellen Folge von präzisen, seitlich geführten Zügen wieder aufsteigen zu lassen. Plötzlich war mein Drache zuoberst. Mein Gegner verhaspelte sich, und ehe er reagieren konnte, hatte ich mir Hassans Trick zunutze gemacht. Ich zog an der Schnur und ließ unseren Drachen nach unten stürzen, konnte fast spüren, wie unsere Schnur die des anderen durchsägte, meinte hören zu können, wie sie entzweiriss.
    Außer Kontrolle geraten, trudelte und kreiste der grüne Drachen in die Tiefe.
    Hinter uns wurde Beifall laut. Ein Pfeifen und Gejohle. Ich schnappte nach Luft. Einen Gefühlsansturm dieser Art hatte ich seit dem Winter 1975 nicht mehr verspürt, als es mir gelungen war, den letzten Drachen zu schneiden, als ich Baba applaudieren und mit strahlendem Gesicht auf dem Dach stehen sah.
    Ich schaute auf Suhrab. Ein Mundwinkel war ein kleines bisschen nach oben gezogen.
    Ein schiefes Lächeln.
    Nur eine Andeutung. Aber es war da.
    Hinter uns wurde es laut. Eine Horde schreiender Kinder rannte dem gekappten Drachen nach, der hoch über den Bäumen davonsegelte. Ehe ich mich versah, war das Lächeln wieder verschwunden. Aber es war da gewesen. Ich hatte es gesehen.
    »Willst du, dass ich dir den Drachen hole?«
    Er schluckte, und sein Kehlkopf sprang auf und ab. Der Wind fuhr ihm durchs Haar. Ich glaubte zu sehen, dass er nickte.
    »Für dich - tausendmal«, hörte ich mich selbst antworten. Dann drehte ich mich um und rannte los.
    Es war nur ein Lächeln gewesen, nicht mehr. Aber wahrhaftig nicht gering zu schätzen. Nicht, dass sich nun alles plötzlich zum Guten gewendet hätte. Es war nur ein Lächeln gewesen. Ein Blatt im Wald, leicht bewegt im Sog eines vorbeifliegenden Vogels.
    Doch ich nehme es an. Mit offenen Armen. Denn wenn der Frühling kommt, schmilzt der Schnee Flocke für Flocke, und vielleicht war das, was ich soeben gesehen hatte, das Schmelzen der allerersten gewesen.
    Ich rannte los. Ein erwachsener Mann inmitten einer Schar schreiender Kinder. Doch das kümmerte mich nicht. Ich lief schneller als der Wind und mit einem Lächeln auf den Lippen, breiter als das Panjshir-Tal.
    Ich rannte.
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