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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer
Autoren: Khaled Hosseini
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Zähnen. »Möchtest du hören, was dein Vater über die Sünde denkt?« »Ja.«
    »Dann werde ich es dir sagen«, erwiderte er, »aber eins solltest du wissen und es dir ein für alle Mal merken, Amir: Du wirst von diesen bärtigen Idioten niemals irgendetwas von Wert lernen.«
    »Meinst du damit Mullah Fatiullah Khan?«
    Baba vollführte eine Geste mit seinem Glas. Das Eis klirrte. »Ich meine damit alle. Man sollte auf die Barte dieser ganzen selbstgerechten Affen pinkeln.«
    Ich begann zu kichern. Die Vorstellung, wie Baba auf den Bart irgendeines Affen, ob selbstgerecht oder nicht, pinkelte, war einfach zu komisch für mich.
    »Sie tun nichts anderes, als ihre Gebetsperlen zu befingern und aus einem Buch aufzusagen, das in einer Sprache geschrieben ist, die sie nicht einmal verstehen.« Er nahm einen Schluck. »Gott stehe uns bei, sollte Afghanistan jemals in ihre Hände fallen.«
    »Aber Mullah Fatiullah Khan scheint nett zu sein«, brachte ich zwischen meinen Kicheranfällen hervor.
    »Das war Dschingis Khan angeblich auch«, sagte Baba. »Aber genug davon. Du hast mich nach der Sünde gefragt, und ich möchte dir darauf antworten. Hörst du mir auch zu?«
    »Ja«, sagte ich und presste die Lippen zusammen. Aber ein Gluckser entwich mir durch die Nase und verursachte ein schnaubendes Geräusch. Das brachte mich wieder zum Kichern.
    Baba durchbohrte mich mit einem kalten Blick, und mit einem Mal lachte ich nicht mehr. »Ich möchte mit dir von Mann zu Mann reden. Meinst du, dass du das ausnahmsweise einmal schaffst?«
    »Ja, Baba jan«, murmelte ich und staunte nicht zum ersten Mal darüber, wie sehr mich Baba mit einigen wenigen Worten zu verletzen vermochte. Wir hatten einen flüchtigen guten Moment miteinander gehabt - es kam nicht oft vor, dass Baba sich mit mir unterhielt, und noch seltener setzte er mich dazu auf seine Knie -, und ich war ein Narr gewesen, ihn zu verschwenden.
    »Gut«, sagte Baba, aber seine Augen zweifelten. »Also, egal, was der Mullah auch lehren mag, es gibt nur eine Sünde, eine einzige Sünde. Und das ist der Diebstahl. Jede andere Sünde ist nur eine Variation davon. Verstehst du das?«
    »Nein, Baba jan«, erwiderte ich und wünschte mir verzweifelt, dass ich es täte. Ich wollte ihn nicht schon wieder enttäuschen. Baba stieß einen ungeduldigen Seufzer aus. Auch das verletzte mich, denn er war kein ungeduldiger Mann. Ich erinnerte mich an die vielen Male, als er erst weit nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause gekommen war, an all die vielen Male, die ich allein zu Abend gegessen hatte. Ich fragte Ali dann immer, wo Baba sei, wann er nach Hause kommen werde, obwohl ich sehr wohl wusste, dass er auf der Baustelle war, dies beaufsichtigte und jenes überwachte. Brauchte man dazu nicht Geduld? Ich hasste bereits all die Kinder, für die er das Waisenhaus baute; manchmal wünschte ich mir, sie wären alle mit ihren Eltern gestorben.
    »Wenn du einen Mann umbringst, stiehlst du ein Leben«, sagte Baba. »Du stiehlst seiner Frau das Recht auf einen Ehemann, raubst seinen Kindern den Vater. Wenn du eine Lüge erzählst, stiehlst du einem anderen das Recht auf die Wahrheit. Wenn du betrügst, stiehlst du das Recht auf Gerechtigkeit. Begreifst du jetzt?«
    Das tat ich. Als Baba sechs Jahre alt war, brach eines Nachts ein Dieb in das Haus meines Großvaters ein. Mein Großvater, ein angesehener Richter, trat ihm entgegen, und der Dieb stieß sofort zu, stach ihm das Messer in die Kehle und tötete ihn damit auf der Stelle - und beraubte Baba seines Vaters. Die Bewohner der Stadt fassten den Mörder kurz vor Mittag am darauf folgenden Tag; er entpuppte sich als ein Landstreicher aus der Kunduz-Region. Sie hängten ihn zwei Stunden vor dem Nachmittagsgebet an dem Ast einer Eiche auf. Es war Rahim Khan, nicht Baba, der mir diese Geschichte erzählte. Ständig erfuhr ich von anderen Menschen Dinge über Baba.
    »Es gibt keine erbärmlichere Tat als das Stehlen, Amir«, erklärte Baba. »Ein Mann, der sich nimmt, was ihm nicht gehört, mag es ein Leben oder ein naan-Brot sein ... auf diesen Mann spucke ich. Und sollte ich jemals seinen Weg kreuzen, so gnade ihm Gott. Verstehst du?«
    Ich fand die Vorstellung, wie Baba einen Dieb verprügelte, zugleich aufregend und Furcht einflößend. »Ja, Baba.«
    »Wenn es einen Gott da draußen gibt, dann hoffe ich, dass er wichtigere Dinge zu tun hat, als sich darum zu kümmern, ob ich Scotch trinke oder Schweinefleisch esse. Und jetzt spring runter.
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