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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer
Autoren: Khaled Hosseini
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lassen«, wie Rahim Khan es auszudrücken pflegte. Wenn er auf Partys mit seinen gut einen Meter fünfundachtzig in den Raum gestürmt kam, richtete sich die Aufmerksamkeit auf ihn wie Sonnenblumen, die sich der Sonne zuwenden.
    Es war unmöglich, Baba zu ignorieren, selbst wenn er schlief. Ich steckte mir Baumwollbüschel in die Ohren, zog mir die Decke über den Kopf, und dennoch drangen die Geräusche von Babas Schnarchen - die einem brummenden Lastwagenmotor ähnelten - durch die Wände. Und mein Zimmer lag auf der anderen Seite des Flurs, gegenüber von seinem Schlafzimmer. Wie meine Mutter es jemals geschafft hat, im selben Zimmer mit ihm zu schlafen, ist eine der vielen Fragen, die ich meiner Mutter gern gestellt hätte, wenn es mir vergönnt gewesen wäre, sie kennen zu lernen.
    Ende der 60er Jahre, als ich fünf oder sechs war, beschloss Baba, ein Waisenhaus zu bauen. Ich hörte die Geschichte von Rahim Khan. Er erzählte mir, dass Baba die Blaupausen selbst gezeichnet habe, obwohl er überhaupt keine Erfahrung auf dem Gebiet der Architektur besaß. Skeptiker hatten ihn gedrängt, mit dieser Tollheit aufzuhören und einen Architekten zu beauftragen. Natürlich hatte sich Baba geweigert, und alle hatten angesichts seiner Sturheit die Köpfe geschüttelt. Doch Baba hatte Erfolg, und so schüttelten sie schon bald angesichts seines Triumphes die Köpfe. Baba bezahlte die Errichtung des zweistöckigen Waisenhauses an der Jadeh Maywand - einer der Hauptstraßen Kabuls, südlich des Kabul-Flusses - aus eigener Tasche. Rahim Khan erzählte mir, dass Baba das ganze Projekt allein finanzierte, die Löhne der Ingenieure, Elektriker, Klempner, der Arbeiter und nicht zu vergessen der städtischen Beamten, deren »Schnurrbarte geölt werden mussten«, eingeschlossen.
    Der Bau des Waisenhauses dauerte drei Jahre. Ich war inzwischen acht. Ich erinnere mich noch an den Tag vor der Eröffnung, als Baba mich zum Ghargha-See mitnahm, der einige Kilometer nördlich von Kabul liegt. Er trug mir auf, Hassan zu holen, damit er auch mitfahren konnte, doch ich log und behauptete, dass Hassan Durchfall habe. Ich wollte Baba für mich allein haben. Und außerdem hatte es Hassan, als wir einmal gemeinsam am Ghargha-See waren und Steine über das Wasser hüpfen ließen, geschafft, seinen Stein achtmal springen zu lassen. Meine Bestleistung war fünfmal gewesen. Baba war damals dabei gewesen, hatte uns zugesehen und Hassan auf den Rücken geklopft. Sogar den Arm um ihn gelegt.
    Wir saßen an einem Picknicktisch am Ufer des Sees, nur Baba und ich, und aßen hart gekochte Eier mit koßa-Broten - in naan gerollte Fleischklöße mit sauren Gurken. Das Wasser war von einem tiefen Blau, und das Sonnenlicht glitzerte auf der glasklaren Oberfläche. Freitags herrschte reges Treiben am See, viele Familien kamen hierher, um einen Tag in der Sonne zu genießen. Aber es war Mittwoch, und so waren nur Baba und ich da und außer uns noch zwei langhaarige, bärtige Touristen - Hippies nannte man sie wohl, so hatte ich gehört. Sie saßen mit Angelruten in den Händen auf dem Steg und ließen die Beine ins Wasser baumeln. Ich fragte Baba, warum sie ihre Haare so lang wachsen ließen, aber Baba grunzte nur, antwortete nicht. Er bereitete seine Rede für den nächsten Tag vor, blätterte durch ein Chaos handgeschriebener Seiten und machte sich hin und wieder Notizen mit einem Bleistift. Ich biss in mein Ei und fragte Baba, ob es stimme, was ein Junge in der Schule erzählt habe, dass man nämlich, wenn man ein Stück Eierschale gegessen habe, es wieder auspinkeln müsse. Baba grunzte wieder.
    Ich nahm einen Bissen von meinem Brot. Einer der Touristen mit den gelbblonden Haaren lachte und schlug dem anderen auf den Rücken. In der Ferne, auf der anderen Seite des Sees, rumpelte ein Lastwagen auf dem Hügel um eine Kurve. Sonnenlicht funkelte in seinem Außenspiegel.
    »Ich glaube, ich habe saratan«, sagte ich. Krebs. Baba hob den Kopf von den Seiten, die in der leichten Brise flatterten. Sagte mir, ich solle das Sodawasser selbst holen, ich müsse nichts weiter tun, als in den Kofferraum des Wagens zu schauen.
    Am nächsten Tag fehlte es draußen vor dem Waisenhaus an Stühlen. Eine Menge Leute mussten stehen, um sich die Eröffnungsfeierlichkeiten anzusehen. Es war ein windiger Tag, und ich saß hinter Baba auf dem kleinen Podest direkt vor dem Haupteingang des neuen Gebäudes. Baba trug einen grünen Anzug und einen Hut aus Karakulfell. Mitten in seiner
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