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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer
Autoren: Khaled Hosseini
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auf die Lehmhütte, in der er geboren war und in der er sein ganzes Leben gewohnt hatte. Ich weiß noch, dass sie spärlich eingerichtet und sauber war und von zwei Petroleumlampen beleuchtet wurde. Es gab zwei Matratzen auf gegenüberliegenden Seiten des Raumes, dazwischen lag ein abgetretener Herati-Teppich mit ausgefransten Rändern, und in einer Ecke standen ein dreibeiniger Stuhl und ein Holztisch, an dem Hassan seine Zeichnungen anfertigte. Die Wände waren nackt bis auf einen einzigen Wandteppich mit eingenähten Perlen, die die Worte Allah-u-akbar formten. Baba hatte ihn auf einer seiner Reisen nach Mashad für Ali gekauft.
    In dieser kleinen Hütte schenkte Hassans Mutter, Sanaubar, ihm an einem kalten Wintertag des Jahres 1963 das Leben. Während meine Mutter bei meiner Geburt verblutete, verlor Hassan seine Mutter eine Woche nachdem er auf die Welt gekommen war. Er verlor sie an ein Schicksal, das für die meisten Afghanen viel schlimmer war als der Tod: Sie lief mit einer Truppe reisender Sänger und Tänzer davon.
    Hassan sprach nie über seine Mutter, ganz so, als hätte sie niemals existiert. Ich habe mich immer gefragt, ob er wohl von ihr träumte, davon, wie sie aussah, wo sie lebte. Ich fragte mich, ob er sie gern wiedergesehen hätte. Ob er sich nach ihr sehnte, wie ich mich nach der Mutter sehnte, die ich nie gekannt hatte. Eines Tages, als wir vom Haus meines Vaters zum Zainab-Kino liefen, um uns einen neuen iranischen Film anzusehen, nahmen wir die Abkürzung über das Gelände der Militärkaserne nahe der Istiqlal-Mittelschule -Baba hatte uns verboten, diese Abkürzung zu nehmen, aber er war zu der Zeit mit Rahim Khan in Pakistan. Wir kletterten über den Zaun, der die Kaserne umgab, sprangen über einen kleinen Bach und machten uns daran, das offene Feld zu überqueren, auf dem alte, stehen gelassene Panzer verstaubten. Eine Gruppe von Soldaten kauerte im Schatten eines der Panzer, rauchte Zigaretten und spielte Karten. Einer der Soldaten sah uns, stieß dem Mann neben sich den Ellbogen in die Seite und rief zu Hassan hinüber: »He du! Ich kenne dich.«
    Wir hatten ihn noch nie gesehen. Er war ein gedrungener Kerl mit rasiertem Kopf und schwarzen Stoppeln im Gesicht. Die Art und Weise, wie er uns angrinste - so anzüglich -, jagte mir Angst ein. »Geh einfach weiter«, raunte ich Hassan zu.
    »Du da! Hazara! Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!«, kläffte der Soldat. Er reichte dem Mann neben ihm seine Zigarette und formte mit der Hand einen Kreis aus Daumen und Zeigefinger. Dann steckte er den Mittelfinger der anderen Hand durch den Kreis. Stieß ihn immer wieder hindurch. »Ich hab deine Mutter gekannt, wusstest du das? Und wie ich sie gekannt habe! Hab sie da drüben neben dem Bach von hinten genommen.«
    Die Soldaten lachten. Einer von ihnen gab vor Vergnügen einen quiekenden Laut von sich. Ich riet Hassan weiterzugehen, bloß weiterzugehen.
    »Was für eine enge, kleine, süße Muschi die hatte!«, sagte der Soldat und schüttelte grinsend die Hände seiner Kameraden. Später, im Dunkeln, als der Film begonnen hatte, hörte ich, wie Hassan neben mir schluchzte. Tränen liefen ihm über die Wangen. Ich griff über meinen Sitz hinweg, schlang den Arm um ihn und zog ihn an mich. Er legte den Kopf an meine Schulter. »Er hat dich mit jemandem verwechselt«, flüsterte ich.
    Es hieß, dass niemand wirklich überrascht gewesen sei, als Sanaubar weglief. Die Leute hatten ohnehin schon die Augenbrauen hochgezogen, als Ali, ein Mann, der den Koran auswendig kannte, Sanaubar heiratete, eine Frau, die neunzehn Jahre jünger war als er, schön, aber berüchtigt für ihre Skrupellosigkeit, und die ihrem unehrenhaften Ruf gerecht wurde. Wie Ali war auch sie Schiitin und gehörte der ethnischen Minderheit der Hazara an. Sie war außerdem seine Cousine ersten Grades und daher als Ehefrau eine verständliche Wahl. Aber über diese Verbindung hinaus hatten Ali und Sanaubar kaum etwas gemein, am wenigsten, was ihr Aussehen betraf. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte, hatten Sanaubars strahlende grüne Augen und ihr lausbübisches Gesicht zahllose Männer zur Sünde verführt. Ali dagegen litt unter einer angeborenen Lähmung der unteren Gesichtsmuskulatur, was es ihm unmöglich machte zu lächeln und seinem Gesicht einen ständigen grimmigen Ausdruck verlieh. Es war seltsam, Ali mit dem versteinerten Gesicht glücklich oder traurig zu sehen, denn dann glitzerte lediglich ein Lächeln in
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