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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer
Autoren: Khaled Hosseini
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und Silberreifen um Hand-und Fußgelenke. Wir bewarfen ihre Ziegen mit Kieselsteinen. Wir spritzten Wasser auf ihre Maultiere. Ich brachte Hassan dazu, sich auf die Mauer des kränkelnden Maises zu setzen und mit seiner Schleuder Kieselsteine auf die Hinterteile der Kamele abzuschießen.
    Wir sahen unseren ersten Western - Rio Bravo mit John Wayne - zusammen im Park-Kino, das gegenüber von meinem Lieblingsbuchladen lag. Ich weiß noch, wie ich Baba gebeten habe, uns mit in den Iran zu nehmen, damit wir John Wayne kennen lernen konnten. Baba brach in wahre Salven seines kehligen Lachens aus - ein Geräusch, das dem Aufheulen eines Lastwagenmotors nicht unähnlich war - und erklärte uns, als er wieder sprechen konnte, den Begriff des Synchronisierens. Hassan und ich waren fassungslos. Benommen. John Wayne sprach in Wirklichkeit gar kein Farsi, und er war auch kein Iraner! Er war Amerikaner, genau wie die freundlichen, faulen, langhaarigen Männer und Frauen in ihren zerlumpten bunten T-Shirts, die wir immer in Kabul herumlungern sahen. Wir schauten uns Rio Bravo dreimal an und unseren Lieblingswestern, Die glorreichen Sieben, dreizehnmal. Bei jeder Vorstellung weinten wir am Schluss, wenn die mexikanischen Kinder Charles Bronson beerdigen - der, wie sich herausstellte, auch kein Iraner war.
    Wir spazierten durch die muffig riechenden Basare des Shar-e-Nau-Bezirks - der Neustadt von Kabul -, westlich des Wazir-Akbar-Khan-Viertels gelegen. Wir redeten über die Filme, die wir gerade gesehen hatten, und schlenderten durch das geschäftige Treiben der bazaris. Wir schlängelten uns zwischen den Lastenträgern, Bettlern und Handkarren hindurch, wanderten schmale Gassen entlang, die voll gestopft waren mit langen Reihen winziger, dicht bepackter Stände. Jeder von uns erhielt von Baba jede Woche ein Taschengeld von zehn Afghani, das wir für warme Coca-Cola und mit gehackten Pistazien bestreutes Rosenwasser-Eis ausgaben.
    Während des Schuljahres hatten die Tage ihren festen Ablauf. Wenn ich mich aus dem Bett schleppte und im Badezimmer herumtapste, hatte sich Hassan bereits gewaschen, mit Ali das Morgen-namaz gesprochen und mein Frühstück bereitet und ordentlich auf den Esstisch gestellt: heißer schwarzer Tee mit drei Stückchen Zucker und eine Scheibe getoastetes naan mit Sauerkirschmarmelade, meiner Lieblingsmarmelade. Während ich aß und mich über meine Hausaufgaben beschwerte, machte Hassan mein Bett, putzte meine Schuhe, bügelte meine Kleider für den Tag und packte meine Bücher und Bleistifte zusammen. Ich hörte ihn beim Bügeln in der Halle draußen immer vor sich hin singen. Er sang mit seiner näselnden Stimme alte Hazara-Lieder. Dann fuhren Baba und ich in Babas schwarzem Ford Mustang davon - ein Auto, das überall neidische Blicke auf sich zog, weil es der gleiche Wagen war, den Steve McQueen in Bullitt gefahren hatte, einem Film, der in einem Kino sechs Monate hintereinander lief. Hassan blieb zu Hause und half Ali bei den täglichen Arbeiten: die dreckige Wäsche von Hand waschen und zum Trocknen im Garten aufhängen, die Böden fegen, frisches naan auf dem Basar kaufen, das Fleisch für das Abendessen marinieren, den Rasen sprengen.
    Nach der Schule traf ich mich mit Hassan, griff mir ein Buch, und dann trabten wir einen Hügel hinauf, der nördlich vom Anwesen meines Vaters im Wazir-Akbar-Khan-Viertel lag. Dort oben gab es einen verkommenen Friedhof mit langen Reihen von namenlosen Grabsteinen, zwischen denen wirres Gestrüpp wucherte. Regen und Schnee hatten das Eisentor verrosten und die niedrigen weißen Steinmauern zerfallen lassen. In der Nähe des Eingangs stand ein Granatapfelbaum. An einem Sommertag benutzte ich eins von Alis Küchenmessern, um unsere Namen in seine Rinde einzuritzen: »Amir und Hassan, die Sultane von Kabul.« Diese Worte machten es offiziell: Der Baum gehörte uns. Nach der Schule kletterten Hassan und ich an seinen Ästen hoch und pflückten uns die blutroten Granatäpfel. Nachdem wir die Früchte gegessen und uns die Hände im Gras abgewischt hatten, las ich Hassan vor.
    Im Schneidersitz unter dem Baum sitzend, während die durch das Laub gefilterten Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht tanzten, zupfte Hassan geistesabwesend Grashalme vom Boden, und ich las ihm die Geschichten vor, die er selbst nicht lesen konnte. Dass Hassan des Schreibens und Lesens unkundig aufwachsen würde wie Ali und die meisten Hazara, war in dem Augenblick seiner Geburt, vielleicht schon im Moment
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