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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer
Autoren: Khaled Hosseini
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seiner Empfängnis in Sanaubars abweisendem Leib beschlossen gewesen - welche Verwendung hatte ein Dienstbote denn auch für das geschriebene Wort? Doch trotz seiner Ungebildetheit oder vielleicht auch gerade deswegen war Hassan fasziniert vom Geheimnis der Wörter, ließ sich verführen von einer geheimen, für ihn verbotenen Welt. Ich las ihm Gedichte und Geschichten vor, manchmal auch Rätsel - hörte aber damit auf, als ich feststellen musste, dass er in der Lage war, sie schneller zu lösen als ich. Also las ich ihm anspruchslosere Dinge vor, wie die Missgeschicke des schusseligen Hodscha Nasreddin und seines Maultiers. Wir saßen stundenlang unter diesem Baum, saßen dort, bis die Sonne langsam im Westen verschwand, und immer noch beharrte Hassan darauf, dass wir genügend Tageslicht für eine weitere Geschichte, ein weiteres Kapitel hätten.
    Am besten fand ich beim Vorlesen immer die Stellen, an denen Wörter vorkamen, die Hassan nicht kannte. Dann zog ich ihn auf, offenbarte seine Unwissenheit. Einmal, als ich ihm eine Geschichte über Hodscha Nasreddin vorlas, unterbrach er mich. »Was bedeutet dieses Wort?«
    »Welches?«
    »Kretin.«
    »Du weißt nicht, was es bedeutet?«, fragte ich grinsend. »Nein, Amir Aga.«
    »Aber es ist doch ein so geläufiges Wort!«
    »Dennoch kenne ich es nicht.« Falls er die Häme meiner Stimme spürte, so verriet sein lächelndes Gesicht nichts davon.
    »Also, jeder in meiner Schule weiß, was es bedeutet«, sagte ich. »Lass mal sehen. Kretin. Das bezeichnet einen Menschen, der klug und intelligent ist. Ich werde dir einen Beispielsatz geben. Wenn es um Wörter geht, dann ist Hassan ein Kretin.«
    »Aaah«, sagte er nickend.
    Später hatte ich deswegen immer Schuldgefühle. Die versuchte ich zu besänftigen, indem ich ihm eins meiner alten Hemden oder ein kaputtes Spielzeug schenkte. Ich versuchte mir einzureden, dass das als Wiedergutmachung für einen harmlosen Streich ausreichte.
    Hassans absolutes Lieblingsbuch war das Shahname, ein aus dem zehnten Jahrhundert stammendes Epos, das von alten persischen Helden handelt. Er fand Gefallen an sämtlichen Kapiteln: die Schahs früherer Zeiten, Feridun, Zal und Rudabeh. Aber seine Lieblingsgeschichte - und zugleich auch die meine - fand sich in dem Kapitel über Röstern und Suhrab, das von dem großen Krieger Röstern und seinem leichtfüßigen Pferd Rakhsh handelt. Röstern bringt dem tapferen Suhrab im Kampf tödliche Verletzungen bei, um dann entdecken zu müssen, dass Suhrab sein verloren geglaubter Sohn ist. Von Schmerz und Kummer erfüllt, lauscht er den letzten Worten seines sterbenden Kindes:
    Wenn du wirklich mein Vater bist, dann hast du dein Schwert mit dem Blut deines Sohnes befleckt. Und das hast du nur deinem Starrsinn zu verdanken. Denn ich habe versucht, in dir die Liebe zu wecken, habe dich angefleht, mir deinen Namen zu nennen, denn ich glaubte, in dir all die Züge zu erblicken, die mir meine Mutter geschildert hat. Doch ich wandte mich vergeblich an dein Herz, und nun ist es zu spät für eine Begegnung...
    »Bitte lies es noch einmal, Amir Aga«, sagte Hassan dann. Manchmal stiegen ihm Tränen in die Augen, wenn ich ihm diese Zeilen vorlas, und ich fragte mich immer, um wen er wohl weinte - um den untröstlichen Röstern, der seine Kleider zerreißt und sein Haupt mit Asche bestreut, oder um den sterbenden Suhrab, der sich immer nur nach der Liebe seines Vaters gesehnt hat? Ich selbst vermochte die Tragödie nicht zu erkennen, die sich in Rostems Schicksal verbarg. Verspürten nicht alle Väter insgeheim ein Verlangen, ihre Söhne zu töten?
    An einem Tag im Juli des Jahres 1973 spielte ich Hassan einen anderen Streich. Während ich ihm vorlas, wich ich plötzlich von der Geschichte ab, die ich gedruckt vor Augen hatte. Ich tat so, als würde ich weiter aus dem Buch vorlesen, blätterte auch regelmäßig die Seiten um, hatte aber den Text ganz und gar verlassen, den Verlauf der Geschichte selbst übernommen und erfand nun meine eigene. Hassan bemerkte dies natürlich nicht. Für ihn waren die Wörter auf einer Seite ein Wirrwarr von Zeichen, nicht zu entziffern, rätselhaft. Wörter waren geheime Zugänge, deren Schlüssel ich in der Hand hielt. Als ich ihn hinterher fragte, wie ihm die Geschichte gefallen habe, da stieg ein Kichern in meiner Kehle auf, doch Hassan begann zu klatschen.
    »Was machst du denn?«, fragte ich.
    »Das war die beste Geschichte, die du mir seit langem vorgelesen hast«, sagte er,
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