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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer
Autoren: Khaled Hosseini
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Besteck fallen. Wandte sich an ihren Vater. »Das kann ich dir sagen ...« »Lass gut sein, Soraya«, fiel ich ihr ins Wort und nahm ihre Hand. »Lass gut sein. Der General hat Recht. Die Leute werden fragen.« »Amir ...«
    »Schon gut.« Ich wandte mich dem General zu. »Mein Vater hat mit der Frau seines Dieners geschlafen. Sie brachte einen Sohn zur Welt und nannte ihn Hassan. Hassan ist inzwischen tot. Der Junge, der da auf der Couch liegt und schläft, ist Hassans Sohn. Er ist mein Neffe. Das darf jeder wissen.«
    Meine Schwiegereltern starrten mich fassungslos an.
    »Aber da ist noch etwas, General Sahib«, ergänzte ich. »Ich verbitte mir, dass Sie ihn in meiner Gegenwart noch einmal als >Hazara-Jungen< bezeichnen. Er hat einen Namen und heißt Suhrab.«
    Das ganze Essen über blieb es still am Tisch.
    Es wäre falsch zu behaupten, dass Suhrab ruhig war. Ruhe ist Frieden. Gelassenheit. Ruhe kehrt ein, wenn der Lautstärkeregler des Lebens heruntergedreht wird. Stille heißt, es ist alles ausgeschaltet.
    Suhrab schwieg nicht aus Protest. Er hatte sich zurückgezogen und suchte in der Stille Deckung.
    Von einem Zusammenleben mit ihm konnte keine Rede sein. Er nahm gewissermaßen nur Raum ein, und davon herzlich wenig. Wenn wir unterwegs waren, auf dem Markt oder im Park etwa, fiel auf, dass andere Leute kaum Notiz von ihm nahmen. Es schien, als wäre er gar nicht zugegen. Manchmal kam es vor, dass ich von der Zeitung aufblickte und plötzlich zu meiner Überraschung feststellte, dass Suhrab mir gegenübersaß. Seine Art zu gehen vermittelte den Eindruck, als scheute er sich, Spuren zu hinterlassen. Kaum dass sich ein Lüftchen rührte, wenn er sich bewegte. Meist schlief er.
    Seine Stille machte Soraya schwer zu schaffen. In unseren Ferngesprächen zwischen Amerika und Pakistan hatte sie jede Menge Pläne für Suhrab gemacht. Da war von Schwimmunterricht die Rede gewesen, von Fußball, von Bowling. Doch wenn sie jetzt in sein Zimmer trat und feststellte, dass von den Büchern im Weidenkorb kein einziges geöffnet, die Messlatte ohne jede Eintragung und das Holzpuzzle immer noch eingepackt war, sah sie sich jedes Mal mit enttäuschten Erwartungen konfrontiert. Ihre Hoffnungen schwanden, kaum dass sie aufgekeimt waren. Und mir ging es ganz ähnlich. Auch ich hatte mir anderes erhofft.
    Suhrab schwieg, nicht so die Welt. An einem Dienstagmorgen im September des vergangenen Jahres stürzten die Türme des World Trade Center ein, und über Nacht wurde alles anders. Überall sah man plötzlich das Sternenbanner: an den Antennen der Taxis, an den Revers der Passanten auf den Gehwegen, selbst an den speckigen Mützen der Bettler von San Francisco, die unter den Markisen der kleinen Kunstgalerien und offenen Läden saßen. Eines Tages kam ich an Edith vorbei, einer obdachlosen Frau, die Tag für Tag an der Ecke Sutter und Stockton Akkordeon spielte. Auf ihrem Instrumentenkoffer klebte die amerikanische Flagge.
    Bald darauf wurde Afghanistan von Amerika bombardiert. Truppen der Nordallianz rückten ein, und die Taliban verkrochen sich wie Ratten in ihre Höhlen. Die Namen der Städte meiner Kindheit - Kandahar, Herat, Mazar-e-Sharif - waren plötzlich in aller Munde. Vor vielen, vielen Jahren hatte Baba einmal mit Hassan und mir eine Fahrt nach Kunduz unternommen. Mir ist nur wenig davon in Erinnerung geblieben, nicht viel mehr als das Bild, wie wir, im Schatten einer Akazie sitzend, abwechselnd aus einem Keramikbecher den frischen Saft einer Wassermelone trinken und mit den Kernen um die Wette weitspucken. Jetzt hörte man im Café an der Ecke, wie sich Gäste über Kunduz als die letzte Talibanbastion im Norden unterhielten.
    Im Dezember trafen sich Paschtunen, Tadschiken, Usbeken und Hazara in Bonn, um unter Beobachtung der Vereinten Nationen einen Friedensprozess in Gang zu setzen, der dem unseligen, seit über zwanzig Jahren herrschenden Unglück in ihrem watan ein Ende setzen sollte. Hamid Karzais Pelzkappe und grüner chapan machten Mode.
    Suhrab bekam von alledem nichts mit.
    Soraya und ich engagierten uns für Afghanistan-Projekte, nicht nur, weil wir uns als Bürger dazu aufgerufen fühlten; es ging uns vor allem auch darum, diese Stille in unserem Haus auszufüllen, die wie ein schwarzes Loch alles in sich aufzusaugen drohte. Ich war nie besonders aktiv gewesen, machte aber dann die Bekanntschaft mit einem Mann namens Kabir, einem ehemaligen afghanischen Botschafter in Sofia, der mich bat, an einem
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