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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer
Autoren: Khaled Hosseini
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Jeans, die ich ihm in Islamabad kurz vor unserem Abflug gekauft hatte. Das T-Shirt hing lose von seinen knochigen, eingezogenen Schultern herab. Abgesehen von den dunklen Augenrändern, war sein Gesicht immer noch ohne Farbe. Er betrachtete uns mit derselben ausdruckslosen Miene, mit der er auch das Essen betrachtet hatte, das ihm im Krankenhaus vorgesetzt worden war.
    Soraya fragte, ob ihm das Zimmer gefalle, und ich merkte, dass ihr Blick immer wieder unwillkürlich auf die rosafarbenen Narben an Suhrabs Handgelenken fiel. Suhrab setzte sich auf die Bettkante, versteckte die Hände unter den Oberschenkeln und senkte den Kopf. Nach einer Weile legte er den Kopf aufs Kissen. Dann, kaum fünf Minuten später, fing er leise zu schnarchen an.
    Auch wir gingen zu Bett. Es dauerte nicht lange, und Soraya war in meinen Armen eingeschlafen. Ich konnte wieder einmal keine Ruhe finden und lag im Dunkeln da, allein mit meinen Dämonen.
    Irgendwann mitten in der Nacht stand ich leise auf und schlich in Suhrabs Zimmer. Als ich mich über ihn beugte, fiel mir ein Gegenstand auf, der unter dem Kissen hervorlugte. Es war das Polaroidfoto von Rahim Khan, das ich Suhrab an dem Abend vor der Shah-Faisal-Moschee gegeben hatte, dasjenige, auf dem Hassan und Suhrab Seite an Seite zu sehen sind, wie sie, von der Sonne geblendet, blinzeln und lächeln, als wären sie mit sich und der Welt zufrieden. Ich fragte mich, wie lange Suhrab dieses Foto in den Händen gehalten und betrachtet haben mochte.
    Dein Vater war hin- und hergerissen, hatte Rahim Khan in seinem Brief geschrieben. Zwischen mir, dem gesellschaftlich anerkannten, legitimen Nachfolger und ahnungslosen Erben seiner Schuld auf der einen und Hassan auf der anderen Seite, jenem Teil von ihm, der, wenngleich ohne Privilegien und Ansehen, all das geerbt hatte, was an Baba rein und edel gewesen war. Möglich, dass Baba im tiefsten Grunde seines Herzens nicht mich, sondern ihn für seinen wahren Sohn gehalten hatte.
    Ich steckte das Foto unter das Kissen zurück. Plötzlich fiel mir noch etwas auf: nämlich, dass mich dieser letzte Gedanke gar nicht mehr schmerzte. Ich zog die Tür zu Suhrabs Zimmer hinter mir zu und fragte mich, ob womöglich gerade auf diese Weise Versöhnung zustande kommt - eben nicht mit dem Fanfarenstoß göttlicher Inspiration, sondern ganz heimlich, wenn der Schmerz nachlässt und sich unversehens mitten in der Nacht davonmacht.
    Am nächsten Tag kamen der General und Khala Jamila zum Abendessen. Khala Jamila, die Haare kürzer und dunkler als sonst, hatte den Nachtisch mitgebracht: maghout mit Mandelkruste. Als sie Suhrab sah, ging ein Strahlen über ihr Gesicht. »Mashallah! Soraya jan hat zwar schon davon geschwärmt, wie hübsch du bist, aber in Wirklichkeit bist du noch viel hübscher, Suhrab jan.« Sie reichte ihm einen blauen Rollkragenpullover. »Den hab ich für dich gestrickt«, sagte sie. »Für den nächsten Winter. Hoffentlich passt er, inshallah.«
    Suhrab nahm den Pullover entgegen.
    »Hallo, junger Mann.« Mehr wusste der General nicht zu sagen. Er stützte sich mit beiden Händen auf seinen Stock und musterte Suhrab wie einen ungewöhnlichen Einrichtungsgegenstand im Haus eines Freundes.
    Während Soraya und ihre Mutter den Tisch deckten, setzte ich mich mit dem General ins Wohnzimmer. Ich berichtete ihm von Kabul und den Taliban. Er hatte den Stock auf seinen Schoß gelegt und hörte zu, nickte zumeist, schüttelte aber den Kopf, als ich ihm von dem Mann erzählte, der seine Beinprothese verkauft hatte. Uber die Exekutionen im Stadion und den Henker Assef verlor ich kein Wort. Er erkundigte sich nach Rahim Khan, dem er in Kabul ein paarmal begegnet war, und zeigte sich betroffen, als ich sagte, dass Rahim Khan sehr krank sei. Im weiteren Verlauf des Gesprächs fiel mir auf, dass sein Blick ein ums andere Mal auf Suhrab fiel, der schlafend auf der Couch lag. Ich hatte den Eindruck, als redeten wir um den heißen Brei herum.
    Bei Tisch kam dann der General endlich auf den Punkt. Er legte die Gabel hin und sagte: »Amir jan, erkläre uns doch bitte, warum du diesen Jungen zu dir ins Haus geholt hast?«
    »Iqbal jan, was für eine Frage«, sagte Khala Jamila.
    »Während du, meine Liebe, fleißig Pullover strickst, habe ich mich um das öffentliche Ansehen unserer Familie zu kümmern. Man wird Fragen stellen. Man wird wissen wollen, warum ein Hazara-Junge im Haus unserer Tochter wohnt. Was werde ich auf solche Fragen antworten?«
    Soraya ließ ihr
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