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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer
Autoren: Khaled Hosseini
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Doch der war einem scheuen Gast gleich wieder verschwunden, und ich fragte mich, ob er je wieder zurückzukehren wagte. Ich fragte mich, wann es Suhrab wieder möglich sein würde zu lächeln. Wie lange es wohl noch dauerte, bis er mir wieder würde vertrauen können. Falls überhaupt.
    Ich verließ das Krankenhaus und suchte nach einem anderen Hotel, nicht ahnend, dass noch fast ein ganzes Jahr verstreichen sollte, bis ich Suhrab wieder ein Wort sagen hörte.
    Suhrab ging auf mein Angebot nicht ein. Er schlug es aber auch nicht aus, wusste er doch sehr genau, was ihm als verwaistem, obdachlosem Hazara bevorstand, sobald er aus dem Krankenhaus entlassen würde. Welche Wahl blieb ihm? Wohin hätte er sich wenden sollen? Was sich wie ein »Ja« anhörte, war in Wirklichkeit nicht so sehr Zustimmung als stille Kapitulation, die Verzichtserklärung eines Jungen, der zu müde war, um eine Entscheidung zu treffen, und weit davon entfernt, vertrauen zu können. Er sehnte sich nach seinem früheren Leben. Stattdessen bekam er mich und Amerika. Kein schlechtes Los, wenn man's recht bedenkt, aber das konnte ich ihm nicht vermitteln. Von Dämonen geplagt, war er nicht in der Lage, neue Ziele ins Auge zu fassen.
    Ungefähr eine Woche später brachte ich Hassans Sohn von Afghanistan nach Amerika. Er tauschte die Gewissheit des Schreckens gegen erschreckende Ungewissheit.
    Irgendwann war ich einmal in einer Videothek in Fremont; das muss 1983 oder 1984 gewesen sein. Ich stand vor einer Auswahl an Wildwestfilmen, als mich ein junger Mann, der Cola aus einem Seven-Eleven-Becher schlürfte, auf Die glorreichen Sieben ansprach und fragte, ob ich diesen Film schon gesehen habe. »Ja, dreizehnmal«, antwortete ich. »Darin geht es Charles Bronson an den Kragen. Und auch James Coburn und Robert Vaughn müssen dran glauben.« Er verzog das Gesicht, als hätte ich ihm soeben in die Cola gespuckt. »Besten Dank, Mann«, sagte er kopfschüttelnd und brummelte im Weggehen irgendetwas vor sich hin. An diesem Tag lernte ich, dass man Amerikanern niemals den Ausgang eines Films verraten darf, es sei denn, man will sie ärgern. Das Ende vorwegzunehmen gehört sich einfach nicht.
    In Afghanistan kommt alles auf das Ende an. Sooft Hassan und ich einen Hindi-Film gesehen hatten und nach Hause zurückkehrten, wollten es alle, die bei uns ein und aus gingen, immer ganz genau wissen: Hat die junge Frau am Ende ihr Glück gefunden? Würden die Träume des bacheh film, des Filmhelden, in Erfüllung gehen, oder war er nahkam, zum Scheitern verurteilt?
    Jeder wollte wissen, ob das Ende glücklich war oder nicht. Wenn mich heute jemand fragte, ob die Geschichte von Hassan, Suhrab und mir ein glückliches Ende gefunden hat, wüsste ich nicht, was ich darauf antworten sollte. Wer könnte das schon sagen?
    Das Leben ist schließlich kein Hindi-Film. Zendagi migzara, heißt es unter Afghanen: Das Leben geht weiter; unabhängig von Ausgang oder Ende, ungeachtet aller Klippen und Krisen, bewegt es sich langsam voran wie eine Karawane.
    Ich weiß auf diese Frage keine Antwort. Daran ändert auch das kleine Wunder nichts, das sich letzten Sonntag zugetragen hat.
    Vor etwa sieben Monaten, an einem warmen Tag im August 2001, kamen wir zu Hause an. Soraya holte uns vom Flughafen ab. Nie zuvor war ich so lange von meiner Frau getrennt gewesen, und als sie sich mir an die Brust warf, als ich in ihrem Haar den Duft von Äpfeln wahrnahm, wurde mir richtig bewusst, wie sehr ich sie vermisst hatte. »Du bist immer noch die Morgensonne meines yelda«, flüsterte ich. »Was?«
    »Ach, nichts.« Ich drückte ihr einen Kuss aufs Ohr.
    Sie ging in die Hocke, um Suhrab auf gleicher Höhe in die Augen zu schauen. Lächelnd ergriff sie seine Hand. »Salaam, Suhrab jan, ich bin deine Khala Soraya. Wir haben dich schon sehnsüchtig erwartet.«
    Als ich sah, wie sie den Jungen anlächelte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, bekam ich eine Ahnung davon, was für eine gute Mutter sie hätte sein können.
    Suhrab trat von einem Fuß auf den anderen und schaute zu Boden.
    Soraya hatte aus dem Arbeitszimmer im Obergeschoss ein Schlafzimmer für Suhrab gemacht. Die hellblaue Bettwäsche war mit bunten Papierdrachen gemustert. Neben dem Kleiderschrank hatte sie eine Messlatte an der Wand befestigt, mit der sich das Wachstum von Kindern verfolgen ließ. Am Fuß des Bettes sah ich einen Weidenkorb mit Büchern, einer Lokomotive und Wassermalfarben.
    Suhrab trug das weiße T-Shirt und die
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