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Dr. Ohio und der zweite Erbe

Dr. Ohio und der zweite Erbe

Titel: Dr. Ohio und der zweite Erbe
Autoren: Mark Stichler
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Es war an einem verregneten Mittag gewesen, als sie sich kennenlernten. Ohio konnte sich sogar noch an den Tag erinnern. Es war ein Montag. Zuvor hatte er einen sehr anstrengenden Wochenenddienst hinter sich gebracht und wollte bei einem guten Buch entspannen. Er ging in Waldenbuch in eine Buchhandlung und suchte nach einem Roman.
    „Inoue“, sagte er dem Angestellten, der neben ihm am Regal stand. „Yasushi Inoue. Er ist ein sehr bekannter Autor.“
    „Das mag sein, aber wir können nicht alle Bücher auf Lager haben.“ Der Angestellte suchte mit den Augen das Regal ab, kam aber zum gleichen Ergebnis wie Ohio. Von Inoue war nichts da.
    „Vielleicht können Sie mal in Ihrem Computer nachsehen?“, fragte Dr. Ohio vorsichtig.
    „Das kann ich natürlich“, erwiderte der junge Mann gereizt. „Aber wenn es nicht im Regal steht, haben wir es nicht vorrätig. Ich muss es bestellen. Aber Sie sagten, Sie brauchen es sofort.“
    „Sofort, ja“, brummte Dr. Ohio unschlüssig. Der Mann war nicht unfreundlich, aber auch nicht überdurchschnittlich hilfsbereit. Was war zu tun?
    „Vielleicht könnten Sie ja trotzdem mal ...? Ich sehe mich so lange noch ein bisschen um.“
    Der Angestellte rollte mit den Augen.
    „Gibt’s irgendwelche Probleme? Kann  ich  vielleicht helfen?“, ertönte hinter ihrem Rücken eine tiefe, sonore Stimme. Beide drehten sich um. Dicht vor ihnen stand ein älterer Herr in einem feinen, dicht gewebten Wollmantel, auf dem die Regentropfen in runden Perlen lagen, und starrte den Verkäufer durchdringend an. Sein dunkelgrauer Haarkranz war hinten zu einem dünnen Zopf gefasst. Er war ungefähr so groß wie Dr. Ohio, aber mindestens doppelt so breit.
    „Nein, danke“, sagte Dr. Ohio. „Ich habe ein bestimmtes Buch gesucht. Aber es ist nicht vorrätig.“
    „So, so. Ein bestimmtes Buch“, sagte der Herr und sah weiterhin den Verkäufer an. „Und es ist nicht vorrätig. Darf man erfahren, was das denn für ein Buch sein soll?“
    „Es ist von Inoue“, sagte der Verkäufer leise, und Dr. Ohio sah ihn nun seinerseits erstaunt an. Was war mit dem Mann los, der noch vor weniger als einer Minute eher mürrisch versucht hatte, ihn loszuwerden?
    „Mhm. Von Inoue“, sagte der Herr im Wollmantel.
    „Der Titel lautet ...“, der Verkäufer blickte Hilfe suchend Dr. Ohio an.
    „,Der Sturm’“, beeilte Dr. Ohio sich zu sagen.
    „Tja. Es ist nicht vorrätig. Nun ja, es kann ja nicht alles vorrätig sein, nicht wahr?“
    Dr. Ohio nickte bestätigend.
    „Aber dass gar nichts von Inoue im Regal steht, das finde ich schon fatal“, fuhr der Herr fort, und seine Kiefermuskeln zuckten in seinem breiten Gesicht. Die von der Kälte grauen Wangen bekamen ein ungesundes Rot. „Das ist, das ist eigentlich unverzeihlich. Finden Sie nicht?“
    Der Verkäufer schien immer kleiner zu werden und versuchte, sich hinter Dr. Ohio zu verstecken.
    „Also, es ist nicht so tragisch“, versuchte Dr. Ohio einzugreifen. „Ich suche mir ein anderes Buch.“
    „Das mag schon sein“, sagte der Herr im Regenmantel und wurde immer lauter. „Aber was für ein Licht wirft das auf meine Buchhandlungen? Wir haben nicht einmal einen Literaten von einem solchen Ruf in unseren Regalen stehen. Was soll ich dazu sagen? Ein großartiger Schriftsteller, aber von den Buchhandlungen eines Charlie Höpfners schnöde missachtet? Nicht, dass alle Schriften dieses Mannes immer vorhanden sein müssten, so weit will ich nicht gehen. Aber ein, zwei Werke sollten sich doch auch in der letzten Hinterwäldlerfiliale meiner Buchhandlungen finden lassen. Liege ich da richtig?“
    Dr. Ohio und der Verkäufer nickten eifrig. Aber das besänftigte Höpfner nicht.
    „Und ausgerechnet die Japaner. Die Japaner. Sind Sie Japaner, mein Herr?“
    Dr. Ohio nickte wieder und der Verkäufer stimmte mit ein.
    „Ach ja. Ich liebe ihre Literatur. Und ihre Dichtung. Kennen Sie Haikus?“
    „Ja“, sagte Dr. Ohio. Der Verkäufer zog es vor zu schweigen.
    So hatten sie sich kennengelernt, Höpfner und Dr. Ohio. Es wurde eine Art Freundschaft daraus. Höpfner war tatsächlich nicht nur der Besitzer dieser einen Buchhandlung, sondern einer ganzen Kette von Buchhandlungen, die quer über die Republik verstreut lagen. Seit einiger Zeit hatte er sich in die japanische Dichtkunst vertieft und seine besondere Aufmerksamkeit galt den Haikus. Damit war auch seine Empörung in der Buchhandlung zu erklären, denn im Allgemeinen interessierte sich Charlie Höpfner
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