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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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verachtenswerte Kreatur ist. Sein eigener Maßstab richtet sich gegen ihn selbst. Um an dieser Einsicht nicht zugrunde zu gehen, gebiert seine Seele den Doppelgänger, der so definiert ist, dass er in allem Erfolg hat, worin sein Urbild nicht erfolgreich ist. Diese ursprüngliche Hilfskonstruktion der Seele hat aber zur Kehrseite, dass Goljadkin seinen Doppelgänger als Feind empfindet. Das heißt: Er realisiert nicht, dass sein Doppelgänger eine herausgelegte Komponente seiner eigenen Persönlichkeit ist, eine Komponente, die in der objektiven Realität gar nicht existiert, weil sie ganz seine Einbildung ist. Der Glaube, in seinem Doppelgänger einen übermächtigen Feind zu haben, der ihm seine Stelle im Leben wegnimmt, treibt Goljadkin in den Wahnsinn. Es ist also die objektive Wirklichkeit seiner Erfolglosigkeit, die Goljadkins halluzinierten Doppelgänger hervorruft, dessen erster Auftritt aus einem Spiegel stattfindet. Das Spiegelbild Goljadkins, das ja in der objektiven Realität da ist, verselbständigt sich zu etwas, das nicht in der objektiven Realität da ist: läuft herum als der aus dem Spiegel herausgetretene Doppelgänger. Dostojewskij kritisiert damit das »agonale Prinzip«, das den abendländischen Menschen zum Wettkampf (griechisch agon ) zwingt, weil er nur als erfolgreicher Wettkämpfer anerkannt wird und glücklich sein kann. Die Französische Revolution hat dieses Prinzip durch den Gleichheitsgrundsatz ( égalité ) regelrecht entfesselt und zur Parole für jedermann werden lassen. Goljadkin ist unfähig zum Wettkampf und geht am Versuch zugrunde, nach dem Prinzip zu funktionieren, nach dem die Gesellschaft, in der er lebt, funktioniert. Das ist seine Tragödie, die Dostojewskijs Erzähler in einem durchweg ironischen Tonfall vorträgt, ohne dass dadurch die Sache selbst ironisiert würde. Der Wahnsinn Goljadkins ist das Resultat der von ihm durchschauten und als unabschaffbar registrierten Bedingungen seiner gesellschaftlichen Existenz.
    Dostojewskij beginnt schon sehr früh mit der Darstellung des »Träumers«, einer Gestalt, die in seinem nachfolgenden Schaffen immer wieder anzutreffen ist. Wassilij Ordynow, die Hauptfigur der Wirtin (1847), ist solch ein Träumer, ein asketisch lebender Intellektueller in Petersburg, der sich durch den Wohnungswechsel seiner Wirtin gezwungen sieht, ein neues Quartier zu suchen. Dieses Werk wird von der Forschung immer wieder mit Gogols Erzählung Schreckliche Rache (1832) in Beziehung gesetzt. Gewiss, wir finden dort eine Reihe ähnlicher Situationen. Im Wesentlichen jedoch hat sich Dostojewskij, wie es scheint, an Gogols Erzählung Der Wij (1835) orientiert. Beide Autoren gestalten das traditionelle Thema vom Scholaren und der Hexe. Bei Gogol muss der »Scholar« seine libidinösen Verstrickungen mit dem Tode bezahlen, bei Dostojewskij indessen wird ihm nur das Liebesobjekt entzogen. Beide Male aber sieht sich das von christlichen Restriktionen beherrschte Ich des jungen Mannes dem Urteilsspruch einer grausamen Vater-Figur ausgesetzt. Gogols ukrainischer Sommernachtstraum verwandelt sich bei Dostojewskij zu einer Fieberphantasie im herbstlich-kalten Petersburg. Zudem hält Dostojewskij in gezielt zeitgemäßer Zuspitzung eine vollkommen realistische Auflösung parat.
    Die erzähltechnischen Mittel werden in der Wirtin mit erstaunlicher Geschicklichkeit gehandhabt. Es bleibt unaufgeklärt, ob Ordynow seine Erlebnisse mit der Titelfigur nur träumt, ob er einer realen Geschehnisfolge eine falsche Deutung gibt oder ob sich tatsächlich abspielt, was ihm zum Erlebnis wird. Dostojewskij spielt hier ganz bewusst mit den geheimsten Vermutungen des Lesers. Der durchtriebene Techniker der großen Romane kündigt sich an.
    Betrachten wir die Handlung nun genauer. Ordynow, ein weltfremder Grübler auf Zimmersuche in Petersburg, findet bei einem biederen Deutschen mit einer Tochter namens Tinchen eine Unterkunft, die er jedoch nicht bezieht, da er kurz darauf eine verheißungsvollere Wohnstatt bei einer jungen Frau ausfindig macht, die mit einem finsteren und hünenhaften älteren Mann zusammenlebt. Dostojewskij lässt immer wieder durchblicken, dass Ordynow von einem grippalen Infekt heimgesucht wird. Die Realität dringt in der bengalischen Beleuchtung eines Fiebertraums auf ihn ein, so dass Halluzinationen nicht auszuschließen sind. Katerina, die wundersame Schöne, nähert sich dem kranken Ordynow in jungfräulich-lasziver Willfährigkeit, so dass Murin, ihr
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