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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Luzern, in Genf, in Genua, in Florenz, in Mailand, in Venedig, in Wien, an manchen Orten sogar zweimal, und das alles, das alles habe ich in genau zweieinhalb Monaten bereist.« [38]  
    Für Nikolaj Karamsins verehrende und bewahrende Einfühlung in den Briefen eines reisenden Russen (1791–1801) ist für Dostojewskij nirgends ein Anlass. Bittere Polemik mischt sich mit leichtestem Witzwort. Die Argumentation ist ganz und gar in unbekümmertem Plauderton gehalten: parteiisch vorschießend, scheinbar zurücknehmend, gezielt abschweifend und stets zutiefst literarisch. Angeredet ist der russische Zeitungsleser, der, durchaus gebildet, von den Tagesfragen und ihren Hintergründen weiß. Das chauvinistische Sentiment des Tagebuchs eines Schriftstellers (1873–1881) spricht sich bereits deutlich aus. Auch der Seitenhieb gegen Rom, das Dostojewskij nicht besuchte, fehlt nicht. Das Hauptgewicht der Betrachtung liegt auf Frankreich und England. Gipfelpunkt visionärer Analyse ist das Bild eines von Baal beherrschten Londons: das ausgebeutete Proletariat sucht, in babylonischem Taumel, seine Rettung in Gin und Laster. Über dem Fortschritt der Londoner Weltausstellung mit ihrem Wahrzeichen im »Kristallpalast« wird die Verzweiflung der arbeitenden Masse sekundär. So kultiviert sich der Schein, es stehe alles zum Besten. Als Kennmarke für Frankreich fungiert der »Bourgeois«, der in vollkommener Erstarrung die ihm verbürgten Gewohnheiten auslebt. Die innere Misere Westeuropas wird Dostojewskij zum Fingerzeig dafür, dass Russland nur in radikaler Rückbesinnung auf sein ureigenstes Erbe lebensfähig bleiben kann. Die Reisenotizen apostrophieren so, mit bereits scharfen Umrissen, ein durchgehendes Thema der nachfolgenden fünf großen Romane.
    Ohne jemals seine negativen Vorurteile abzulegen, unternahm Dostojewskij noch mehrere Reisen in den Westen, so etwa 1863 mit Apollinaria Suslowa, trotz aller Zerwürfnisse seine »ewige Freundin«, die er in Paris abholt, selber bereits seit seiner ersten Europareise ganz im Banne seiner Spielsucht, oder 1867 mit seiner zweiten Frau, Anna Grigorjewna, die darüber ein Tagebuch veröffentlichte. Diese seine vierte Reise in den Westen, dauerte schließlich vier Jahre und drei Monate, bis er im Juli 1871 wieder in Petersburg eintrifft. Über seine Aufenthalte in Deutschland Näheres im Kapitel über den Spieler .

Der Publizist: Tagebuch eines Schriftstellers
    Seit Dostojewskij aus der sibirischen Verbannung zurück ist, begleitet er seine literarischen Veröffentlichungen mit publizistischen Stellungnahmen zum Tagesgeschehen. Bereits 1847 hatte er vier kurze Beiträge für die »St. Petersburger Zeitung« geschrieben, die sein journalistisches Talent bewiesen, noch ganz »europäisch« ausgerichtet und gar nicht slawophil. Das änderte sich seit Sibirien. Was blieb, war der feuilletonistischen Plauderton, mit anekdotischen Abschweifungen, versteckten und offenen Anspielungen, gemünzt auf den aktuell informierten Zeitungsleser. Petersburger Träumereien in Vers und Prosa sind dafür ein schönes Beispiel, erschienen 1861 in der Zeitschrift »Die Zeit« (Vremja), die Dostojewskij zusammen mit seinem Bruder Michail 1860 gegründet hatte. Aber schon im April 1863 wurde sie verboten. Die patriotische Zensur hatte in einem Artikel von Nikolaj Strachow eine polonophile Haltung zum polnischen Aufstand von 1862 entdeckt (die gar nicht intendiert war).
    Bereits im Jahr darauf wurde den Brüdern Dostojewskij die Gründung einer neuen Zeitschrift erlaubt: »Die Epoche« (Epocha), die allerdings im März 1865 nach dem Tod Michails aufgrund finanzieller Probleme ihr Erscheinen einstellen musste. Doch Dostojewskij, der Publizist, lässt sich nicht entmutigen, strebt auch weiterhin den unmittelbaren Kontakt zur russischen Öffentlichkeit an, den er mit seinen großen Romanen ja ohnehin regelrecht systematisch betreibt.
    Kohärent und langstreckig schlagen sich seine publizistischen Ziele schließlich in seinem Tagebuch eines Schriftstellers nieder, einer kommentierenden Chronik der laufenden Ereignisse, die, was hervorgehoben sei, ganz von ihm selber verfasst wurde und immerhin acht Bände füllt. Für den heutigen Historiker ist Dostojewskijs Tagebuch eines Schriftstellers eine wichtige Quelle zur Rekonstruktion des russischen Selbstverständnisses in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts aus slawophiler Sicht, die hier, mit Dostojewskijs eigenen Akzenten versehen, vorliegt.
    Seit 1873
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