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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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sich hier ihr Milieu und weist voraus auf die Großstadtdichtung des 20. Jahrhunderts.
    Verbrechen und Strafe evoziert auf Schritt und Tritt die Poesie des Hässlichen und den Reiz des Morbiden. Dostojewskij fotografiert gleichsam die Bewusstseinstätigkeit Raskolnikows. Immer wieder bekommen wir Großaufnahmen, ja regelrechte Ausschnittvergrößerungen präsentiert, deren Kontext wir erschließen müssen, weil sie uns fast kommentarlos vor Augen gehalten werden. Es fällt auf, dass die rund siebenhundert Seiten dieses Romans nur eine Zeitspanne von fünfzehn Tagen aus dem Leben Raskolnikows schildern; innerhalb dieser Zeitspanne ist Raskolnikow – nach der Tat – sogar über mehrere Tage hinweg bewusstlos, so dass nur einige wenige Tagesabläufe kontinuierlich dargestellt werden. Auf diese Weise wird es Dostojewskij möglich, eine mikroskopische Analyse der Bewusstseinstätigkeit eines Mörders vorzunehmen. Die Geschichte eines Verbrechens wird uns in allen ihren Phasen detailliert vor Augen geführt, beginnend mit dem Gedanken an die Tat und endend mit dem Geständnis des Täters.
    Dostojewskij liebt es, szenisch zu erzählen und die Handlung in großen Dialogen voranzutreiben – zu Recht hat man seine Romane dramatische Romane genannt, »Tragödien in Romanform« (W. Iwanow). Man darf darüber aber nicht außer Acht lassen, dass es im Text immer wieder heißt: »Später, wenn sich Raskolnikow an diesen Augenblick erinnerte, stellte sich ihm alles folgendermaßen dar.« Später – das heißt: im sibirischen Zuchthaus. Wir haben Verbrechen und Strafe als Erinnerungsbilder der Hauptgestalt zu lesen, episch aufzufassende Erinnerungsbilder eines Mörders unterwegs zur Selbstfindung, die der Epilog aber nur andeutet. Streckenweise wird allerdings auch der Selbstmörder Arkadij Swidrigajlow von innen geschildert, ja sogar Rasumichin oder Luschin; dennoch bleibt Raskolnikow das zentrale Bewusstsein, auf das alles, was im Roman geschieht, kompositionell bezogen ist.
    Zwei Fragen
    Zwei Fragen seien nun beantwortet: Auf welche Weise wird Raskolnikow zur Tat getrieben? Und: Warum stellt er sich der Polizei, obwohl er ein perfektes Verbrechen begangen hat?
    Dostojewskij führt uns seine Hauptgestalt im wachsenden Bann einer vollkommen gerechten Empörung vor. Das daraus resultierende Paradox liegt auf der Hand: Raskolnikow erweist sich durch die Empörung, die er angesichts der Unsittlichkeit seiner Umwelt empfindet, als zutiefst sittlicher Mensch – und diese sittlich fundierte Empörung ist es, die ihn zum Mörder werden lässt.
    Der erste Teil des Romans führt uns Raskolnikow in einer sich negativ zuspitzenden Zwangslage vor. Da er mit seiner Mietzahlung im Rückstand ist, versetzt er die Taschenuhr seines verstorbenen Vaters bei der Wucherin Aljona Iwanowna, die ihn routiniert betrügt. Mit einem Rubel und fünfzig Kopeken verlässt er ihre Wohnung und lernt in einer Kellerkneipe den betrunkenen Marmeladow kennen, der ihm von seiner achtzehnjährigen Tochter Sonja erzählt, die zur Prostituierten wurde, um ihrer notleidenden Familie zu helfen. Am nächsten Tag erhält Raskolnikow, »gallig, reizbar und böse«, einen langen Brief von seiner Mutter, die ihm ankündigt, dass sie zusammen mit seiner Schwester nach Petersburg kommen werde. Der Brief lässt die finanzielle Ohnmacht der Mutter und insbesondere Dunjas deutlich werden, die den reichen Rechtsanwalt Pjotr Luschin heiraten wolle, wodurch ihm, dem Bruder, die schöne Möglichkeit eröffnet werde, Mitarbeiter in dessen Anwaltskanzlei zu werden. Der Brief führt gleichzeitig den fünfzigjährigen Gutsbesitzer Arkadij Swidrigajlow ein, in dessen Haus Raskolnikows Schwester Dunja als Gesellschafterin tätig war und zu Unrecht in den Verdacht geriet, Swidrigajlows Geliebte zu sein. Sowohl Luschin als auch Swidrigajlow erscheinen Raskolnikow im Hinblick auf seine Schwester als Ausbeuter finanzieller Not zum Zwecke der eigenen Lust und Herrschaft. Das Schicksal Sonja Marmeladowas, die zur Prostituierten wurde, um ihre Familie finanziell zu erhalten, und Dunjas, seiner Schwester, die einen charakterlich minderwertigen Luschin heiraten will, um ihrem Bruder eine Existenzgrundlage zu verschaffen, werden in seinen Augen eins. Der Bericht des alten Marmeladow und der Brief seiner Mutter sensibilisieren Raskolnikow bis zum Äußersten für die soziale Exemplarik seiner eigenen Notlage. An dieser Stelle bringt Dostojewskij Dmitrij Rasumichin herein, Raskolnikows
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