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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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willen, die sich hinter rationalen Vorwänden versteckt und in der Maske hypothetischer Imperative ihr teuflisches Ziel betreibt. Zuerst ist die Selbsterhöhung da, die lange vor der Tat im Artikel Über das Verbrechen ihren Ausdruck findet. Raskolnikow disponiert sich damit zum Frevel. Im Vollzug der Tat schließlich triumphiert nur noch die Lust am Bösen um seiner selbst willen.
    Warum aber stellt sich Raskolnikow schließlich der Polizei? Wie sieht der Mechanismus aus, der ihn zermürbt, obwohl er doch ein perfektes Verbrechen begangen hat? Um diese Frage richtig zu beantworten, ist Folgendes zu beachten: Beide Opfer Raskolnikows befinden sich, als sie von ihm ermordet werden, im Zustand der totalen Wehrlosigkeit. Aljona Ianowna beugt sich gerade über ein angebliches »Pfand«, um es aufzuschnüren, als Raskolnikow ihr mit der stumpfen Seite seines Beils von hinten auf den Scheitel schlägt; und die unerwartet am Tatort erscheinende Lisaweta ist derart eingeschüchtert, dass sie nicht einmal die Hand hebt, um sich zu schützen, als sie von der Schneide des Beils an der Schläfe getroffen wird. Dostojewskij hebt durch die Wehrlosigkeit der Opfer das freiheitliche Tun des Täters hervor. Raskolnikows Tat ist zwar sozio-psychologisch gesehen zu rechtfertigen, nicht aber sittlich gesehen, denn nichts hat ihn im Augenblick der Tat gezwungen, sie zu tun.
    Dem freiheitlichen Vollzug der Tat entspricht nun das freiheitliche Geständnis Raskolnikows – freiheitlich deshalb, weil sich sein Verbrechen als perfektes Verbrechen erweist; niemand könnte beweisen, dass Raskolnikow der Täter ist. Auch Porfirij Petrowitsch, der Untersuchungsrichter, nicht. Raskolnikows Entschluss, sich der Polizei zu stellen, hat also die Einsicht zur Grundlage, dass er nur durch Annahme der Strafe in die menschliche Gemeinschaft zurückkehren kann, die er durch sein Verbrechen verlassen hat. Diese Einsicht, so konstruiert Dostojewskij, fällt auf den Boden eines unerträglich werdenden psychosomatischen Unbehagens, von dem Raskolnikow heimgesucht wird. Seine Seele meldet sich im Medium des Körpers. Sein Ich aber sträubt sich gegen solche Botschaft. In derselben gewittrigen Regennacht, in der sich Raskolnikow zur Rückkehr ins Leben durch den Sprung in die Strafe entschließt, erschießt sich bezeichnenderweise Swidrigajlow: mit dem dreischüssigen Revolver seiner Frau, die er unter für uns ungeklärten Umständen in den Tod getrieben hat.
    Raskolnikows Entschluss, sich der Polizei zu stellen, wird durch drei Begegnungen mit dem Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch und durch drei Begegnungen mit der Prostituierten Sonja Marmeladowa vorbereitet. Porfirij Petrowitsch vertritt das Strafgesetz, den öffentlichen Richter, Sonja das Gewissen, den inneren Richter. Porfirij Petrowitsch sucht Raskolnikow argumentativ zu fassen. In den Gesprächen mit ihm steht der geplante Mord an der alten Wucherin zur Debatte, während in den Gesprächen mit Sonja, die gegen alles Argumentieren taub ist, die zufällige Ermordung der gutmütigen Lisaweta im Vordergrund steht. Man hat für Dostojewskijs Gestaltung des Untersuchungsrichters literarhistorische Vorbilder geltend gemacht – so unter anderem Mr. Bucket aus Charles Dickens’ Bleakhaus (1853) und Javert aus Victor Hugos Die Elenden (1862).
    Der Stoff, aus dem die Dichtung ist, kann aber in der Stoffgeschichte und auch in der Motivgeschichte niemals gefunden werden. Porfirij Petrowitsch ist ausschließlich das, was er für Raskolnikow hier und jetzt ist: der »Blick des Anderen« in seiner gefährlichsten Gestalt als Auge des Gesetzes, in dem sich die Angst des Täters spiegelt, möglicherweise Indizien hinterlassen zu haben. Sonja hingegen ist das Gestalt gewordene Wissen der Innerlichkeit Raskolnikows, gegen das sich sein Ich abzuriegeln versucht. So wird Raskolnikow von außen und von innen dazu gebracht, den sittlichen Menschen in sich selber zu befreien – das Kind nämlich, das im Traum vom zu Tode geprügelten Pferd dessen »totes blutüberströmtes Maul« küsst und dann die »Augen, die Lippen …«
    Die Gestalt der Sonja brachte für Dostojewskij eine Schwierigkeit mit sich. Sonja sollte Raskolnikow auf seinem schweren Gang nach Sibirien begleiten, damit er seine Strafe aushalten konnte. Wie aber konnte Sonja dazu fähig sein, wenn sie dazu ihre Familie hätte verlassen müssen, für deren Unterhalt sie ja als Prostituierte auf die Straße gegangen war? Dostojewskij geht so vor, dass
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