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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Dostojewskij, dass Raskolnikow nach der Tat realisiert: das Hemd, das er trägt, hat die von ihm ermordete Lisaweta noch gewaschen.
    Die neun Tage, die Raskolnikow vor unseren Augen agiert, werden von Dostojewskij wie ein Albtraum eingerichtet. Es dominiert die Angst, entdeckt zu werden. Sie ist schon da, als die Ermordung der Wucherin noch erst geplant wird. Mit Einsetzen des Romans »Anfang Juli, es war außergewöhnlich heiß«, als Raskolnikow die Wucherin aufsucht, um sich den Tatort genau einzuprägen, ist seine Wahrnehmung auf potentielle Beweise für seine Täterschaft ausgerichtet. Er lebt mit Einsetzen des Romans bis zu seinem Geständnis am Ende des sechsten Teils in der Hölle seiner Angst vor Entdeckung. Wir, die Leser, werden mit ihm in diese Hölle eingeschlossen. Nirgends erhalten wir einen Aufblick von außen in die Situation Raskolnikows, etwa aus der Sicht eines kommentierenden Erzählers.
    Hauptkennzeichen der zentral gestalteten Situation Raskolnikows nach der Tat ist die Isolation. Im Wissen um das vollzogene Verbrechen betrachtet er seine alltägliche Umwelt wie ein Fremder. Dostojewskij lässt es sich nicht entgehen, aus dieser Situation alles zu machen, was sich nur machen lässt. Da ist der hilfsbereite und biedere Rasumichin, der von der Untat seines besten Freundes nichts ahnt. Da reisen zu allem Überfluss noch Mutter und Schwester, die Standardfiguren gesitteter Lebenseinstellung, plötzlich aus der Provinz an, versprechen sich Hilfe von ihrem »Rodja«.
    Im Zugriff einer fiebrigen Erkältung kann Raskolnikow nach der Tat zeitweilig sein Bett nicht verlassen. Schüttelfrost sucht ihn heim. Er versinkt in mehrtägigen Tiefschlaf. In Dostojewskijs Menschenbild ist solche Krankheit Folge der vollzogenen Untat, ganz in der Nachfolge Schillers. »Der Zustand des größten Seelenschmerzes ist zugleich der Zustand der größten körperlichen Krankheit«, [45]   heißt es in dessen Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen. Raskolnikows sonderbares Verhalten wird von seiner Umwelt seiner Krankheit zugeschrieben. Dass die Krankheit Reaktion auf sein Verbrechen ist, kann niemand wissen. Doktor Sossimow verkennt natürlich seinen Patienten. Nur der Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch ahnt den Zusammenhang, hat aber keine Beweise.
    Vier kriminologische Gemeinplätze sind hervorzuheben: (I) der Gang des Täters zurück an den Tatort, (II) das Auftauchen eines Unbekannten, der sich zur Tat bekennt, obwohl er sie nicht begangen hat, (III) das lustvolle Interesse des Täters an den Zeitungsberichten über seine Tat und schließlich, alles durchdringend, (IV) seine Angst davor, entdeckt zu werden.
    Der Täter kehrt an den Tatort zurück
    Raskolnikow sieht sich nach der Tat vom Tatort geradezu magisch angezogen. Er geht wenige Tage nach der Tat erneut in die Wohnung des Opfers. Dort sind inzwischen zwei Arbeiter tätig: Anstreicher. Die Wohnung ist leergeräumt, wird renoviert. Was tut Raskolnikow? Verhält er sich unauffällig? Im Gegenteil. Er macht sich verdächtig, fragt, wo denn das Blut sei, denn hier habe man doch die Alte und ihre Schwester ermordet. Nicht nur das. Raskolnikow betätigt wieder die Türglocke – genau wie vor seiner Tat. Und dies nicht nur einmal, sondern insgesamt dreimal. Der gleiche blecherne Klang! Raskolnikow lauscht und erinnert sich. Die damalige qualvolle Empfindung kehrt immer klarer und lebhafter in sein Gedächtnis zurück. Er schreckt bei jedem Klingeln zusammen, und dabei – so heißt es, »wurde ihm immer wohler zumute«. Warum kehrt Raskolnikow an den Tatort zurück? Der Untersuchungsrichter sagt es ihm später auf den Kopf zu: Raskolnikow wollte die Kälte im Rückenmark wieder spüren.
    Noch ein zweites Mal kehrt Raskolnikow an den Ort der Tat zurück – diesmal aber im Traum, der allerdings von Dostojewskij so raffiniert eingefädelt wird, dass wir das Geschehen zunächst für Wirklichkeit halten müssen. Dieser Traum (im sechsten Kapitel des dritten Teils) wird nämlich wie der laufende Text in der Vergangenheitsform erzählt, während der erste große Traum, den Raskolnikow hat, der Traum vom zu Tode geprügelten Pferd im ersten Teil des Romans, im Präsens erzählt wird. Dostojewskij führt also gerade den aufmerksamen Leser mit der Schilderung der zweiten Rückkehr an den Tatort zunächst auf den Leim. Raskolnikow geht in diesem Traum erneut in die Wohnung der Wucherin: Hier ist, vom Mondlicht
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