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Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Titel: Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft
Autoren: Carlos Castaneda
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Rosa sprang auf und funkelte mich zornig an. Sie verlangte zu wissen, was ich eigentlich mit ihnen vorhätte. Ich sagte, ich hätte vor, bald aufzubrechen.
    Meine Worte schienen sie zu schockieren. Alle sprachen gleichzeitig auf mich ein. Rosas Stimme übertönte die der anderen. »Aufbrechen? Das hättest du gestern abend tun sollen! Ich habe gleich nichts Gutes geahnt, als du dich zu bleiben entschiedst.« Josefina beschimpfte mich lautstark und obszön. Auf einmal schüttelte ich mich - ich stand auf und brüllte sie an, sie sollten schweigen; und zwar brüllte ich mit einer Stimme, die nicht meine eigene war. Sie schauten mich entsetzt an. Ich versuchte gleichmütig dreinzuschauen, aber ich war über meinen Auftritt nicht minder erschrocken als sie. In diesem Moment kam la Gorda in die Küche hinaus. Es kam mir so vor, als habe sie sich im vorderen Zimmer versteckt und nur darauf gewartet, daß wir Streit anfingen. Sie sagte, sie habe doch jeden von uns gewarnt, nicht in die Fallstricke der anderen zu gehen.
    Ich mußte lachen, weil ich fand, daß sie uns wie ungezogene Kinder ausschalt.
    Sie sagte, wir schuldeten einander Respekt, den kostbaren gegenseitigen Respekt von Kriegern. Die Schwesterchen, sagte sie, wüßten sich untereinander wie Krieger zu benehmen, die Genaros ebenfalls. Wenn aber ich in eine der Gruppen käme oder wenn die beiden Gruppen zusammenkämen, dann vergäßen sie alle ihr Krieger-Wissen und benähmen sich wie Flegel.
    Wir setzten uns. La Gorda nahm neben mir Platz. Nach kurzer Pause erklärte Lidia, sie fürchte, daß ich ihnen dasselbe antun würde wie Pablito. La Gorda lachte und meinte, sie würde nie zulassen, daß ich einer von ihnen hülfe. Ich sagte, ich könne nicht begreifen, was ich denn Pablito so Schlimmes angetan hatte. Mir sei damals nicht bewußt gewesen, was ich tat, und wenn Nestor es mir nicht gesagt hätte, dann hätte ich nie gewußt, daß ich Pablito tatsächlich gestützt hatte. Ja, ich fragte mich, ob Nestor nicht vielleicht ein wenig übertrieben oder sich gar geirrt hatte. Der Zeuge, sagte la Gorda, könne keinen so törichten Irrtum begehen, und Übertreibungen seien ihm erst recht fremd. Der Zeuge sei der vollkommenste Krieger von allen. »Zauberer helfen einander nicht«, fuhr sie fort.
    »Du hast dich benommen wie ein gewöhnlicher Mensch. Der Nagual aber hat uns alle gelehrt, Krieger zu sein. Er sagte, ein Krieger hat für niemanden Mitleid. Mitleid zu haben, das bedeutete in seinen Augen, daß du den Wunsch hast, der andere möge so sein wie du, sozusagen in deinen Schuhen stehen - und nur zu diesem Zweck hilfst du ihm. Das hast du mit Pablito gemacht. Das Schwerste überhaupt für einen Krieger ist, andere sein zu lassen, wie sie sind. Als ich noch so fett war, machte ich mir Sorgen um Lidia und Josefina, weil ich fand, daß sie nicht genug aßen. Ich fürchtete, sie könnten krank werden und sterben. Ich tat alles, um sie zu füttern und zu mästen, und ich wollte damit nur ihr Bestes. Die Makellosigkeit eines Kriegers besteht darin, die anderen in Ruhe zu lassen und sie in dem, was sie sind, zu bestärken.«
    »Damit traust du ihnen natürlich zu, daß sie selbst makellose Krieger sind?« wandte ich ein.
    »Dann ist es deine Pflicht, wenigstens selbst makellos zu sein und kein Wort zu verlieren«, antwortete sie. »Der Nagual hat gesagt, daß nur ein Zauberer, der sieht und der formlos ist, es sich leisten kann, einem anderen zu helfen. Darum half er uns und machte uns zu dem, was wir sind. Du glaubst doch wohl nicht, du kannst rumlaufen und Leute auf der Straße aufsammeln, um ihnen zu helfen, oder?« Don Juan hatte mir immer das Dilemma vor Augen geführt, daß ich meinen Mitmenschen unmöglich helfen könne. Ja, in seinen Augen war all unser Bemühen, anderen zu helfen, ein willkürliches, nur von unserm Eigeninteresse geleitetes Tun. Eines Tages, als ich mit ihm zusammen in der Stadt war, hob ich eine Schnecke auf, die mitten auf dem Bürgersteig lag, und setzte sie behutsam unter die Weinranken am Straßenrand. Ich war sicher, hätte ich sie mitten auf dem Bürgersteig liegenlassen, dann hätte früher oder später jemand sie zertreten. Indem ich sie in Sicherheit brachte, glaubte ich, sie gerettet zu haben. Don Juan bewies mir, daß dies eine leichtfertige Annahme sei. Denn ich hatte zwei wichtige Möglichkeiten außer Betracht gelassen. Die eine war, daß die Schnecke womöglich vor dem sicheren Tod durch irgendwelches Gift unter der Weinranken
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