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Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Titel: Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft
Autoren: Carlos Castaneda
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floh; und die andere war, daß sie genügend persönliche Kraft hatte, um den Bürgersteig zu überqueren. Durch mein Eingreifen hatte ich die Schnecke nicht gerettet, sondern ich hatte sie verlieren lassen, was sie so mühsam errungen hatte.
    Natürlich wollte ich die Schnecke sofort wieder an die Stelle bringen, wo ich sie gefunden hatte. Aber Don Juan ließ es nicht zu. Er sagte, es sei das Schicksal der Schnecke, daß irgendein Idiot ihren Weg kreuzte und dafür sorgte, daß sie ihren Schwung verlor. Wenn ich sie jetzt ließ, wo ich sie hingetan hatte, dann wäre sie vielleicht imstande, genügend Kraft anzusammeln, um nach eignem Belieben irgendwohin zu kriechen. Dieser Einwand leuchtete mir ein. Anscheinend aber pflichtete ich ihm nur halbherzig bei. Das Schwerste für mich war eben, andere sein zu lassen.
    Diese Geschichte erzählte ich ihnen. La Gorda klopfte mir den Rücken.
    »Ja, wir alle sind ziemlich schlimm«, sagte sie. »Alle fünf sind wir schreckliche Toren, die nicht verstehen wollen. Mir ist es gelungen, den größten Teil meiner häßlichen Seite loszuwerden - aber nicht alles. Wir sind ziemlich langsam, und im Vergleich zu den Genaros sind wir schwermütig und herrschsüchtig. Die Genaros dagegen sind alle wie Genaro selbst; an ihnen ist wenig Schreckliches.«
    Die Schwesterchen wackelten zustimmend mit dem Kopf. »Du bist der Schrecklichste unter uns«, sagte Lidia zu mir. »Verglichen mit dir, glaube ich, sind wir gar nicht so schlimm.«
    La Gorda kicherte und stieß mein Bein an, als wolle sie mich auffordern, Lidia beizupflichten. Das tat ich, und sie alle lachten wie Kinder.
    Dann schwiegen wir lange.
    »Und jetzt komme ich zum Schluß dessen, was ich dir zu sagen hatte«, sagte la Gorda plötzlich.
    Sie hieß uns alle aufstehen. Sie sagte, sie wollten jetzt alle gehen und mir die Kraftstellung der Toltekenkrieger zeigen. Lidia stand rechts neben mir und schaute mich an. Sie schaute mich an und ergriff mit ihrer rechten Hand meine Hand - Handfläche gegen Handfläche, ohne aber die Finger zu verschränken. Dann hakte sie ihren Unken Arm direkt über dem Ellbogen in meinen rechten und preßte ihn fest gegen ihre Brust. Josefina tat zu meiner Linken das gleiche. Rosa stand vor mir; sie schob ihre Hände unter meinen Achseln hindurch und umklammerte meine Schultern. La Gorda trat hinter mich und schlang ihre Arme um meine Hüften, wobei sie die Finger über meinem Nabel verschränkte.
    Wir waren alle etwa gleich groß, und so konnten sie ihre Köpfe gegen meinen Kopf drücken. La Gorda sprach ganz leise hinter meinem linken Ohr, aber doch laut genug, daß wir alle sie hören konnten. Sie sagte, wir wollten nun versuchen, unsre zweite Aufmerksamkeit an die Kraft-Stelle des Nagual zu bringen, ohne das irgend etwas oder irgend jemand uns vorwärts trieb. Diesmal würde kein Lehrer uns helfen, keine Verbündeten würden uns anspornen. Wir würden nur durch die Kraft unseres Wollens dorthin gelangen.
    Ich konnte mir nicht verkneifen, sie zu fragen, was ich tun solle. Sie sagte, ich solle meiner zweiten Aufmerksamkeit erlauben, sich auf die Stelle zu konzentrieren, die ich angegafft hatte. Die besondere Stellung unserer Körper zueinander, erklärte sie, war eine toltekische Kraft-Konstellation. Im Augenblick war sie Mittelpunkt und verbindende Kraft der vier Ecken der Welt. Lidia war der Osten, die Waffe, die der Toltekenkrieger in der Rechten hält; Rosa war der Norden, der Schutzschild, den der Krieger vor sich hält; Josefina war der Westen, der Geistfänger, den der Krieger in der Linken hält; und la Gorda war der Süden, der Korb, den der Krieger auf dem Rücken trägt und in dem er seine Kraft- Objekte aufbewahrt. Die natürliche Richtung, in die der Krieger zu blicken habe, sei der Norden, sagte sie. Denn er müsse seine Waffe, den Osten, in der rechten Hand halten. Wir aber müßten uns nach Süden orientieren, dabei einige Grad nach Osten gerückt. Die Macht-Tat, die der Nagual uns zu tun aufgetragen hatte, bestand nun darin, unsre Richtung zu ändern. Sie erinnerte mich daran, daß der Nagual gleich zu Anfang den Blick eines jeden von uns nach Südosten ausgerichtet hatte. Auf diese Weise hatte er unsere zweite Aufmerksamkeit auf die Tat vorbereitet, die wir jetzt versuchen wollten. Bei dieser Tat gab es zwei Alternativen. Die eine war, daß wir alle uns — um mich als Achse - nach Süden umdrehten. Dadurch hätten sich Wert und Funktion von uns allen geändert. Lidia wäre dann der
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