Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Autoren: Taiye Selasi
Vom Netzwerk:
Und dass sie den Tod auslachte. (Später, in Amerika, sah er diese Augen wieder, vor allem in der Notaufnahme, wo Elfjährige sterben, die ruhigen Augen eines Kindes, das in Not gelebt hat und in Not stirbt und das dies weiß; ein Kind, das beides akzeptiert und sich gleichzeitig irgendwie darüber hinweggesetzt hat. Nicht durch eine gute Ausbildung, was seine Art von Widerstand war. Nicht durch Blindheit, wie er es bis dahin bei seiner Schwester gedacht hatte. Nein, sie hatte die Welt mit genau der gleichen Achtlosigkeit betrachtet, die die Welt ihr entgegenbrachte – ihr und auch ihm, allen bettelarmen Kindern. Die gleiche Missachtung.) Ihre Augen lachten immer noch. Missachteten alles: Tuberkulose, Armut, Quacksalber, den frühen Tod. Schauten auf eine Welt, die ihr keine Beachtung schenkte, mit einem Blick, der sagte, dass sie ihrerseits die Welt ebenfalls als irrelevant betrachtete. Ekua hatte alles gesehen, was er sah – die Erniedrigungen durch die Armut, die scheinbare Bedeutungslosigkeit ihrer Existenz für und in der Welt, die quälende Kleinheit einer Existenz, die nicht weiter reichte als der Strand, den man an einem halben Tag entlanggehen konnte – ohne sich selbst dabei als erniedrigt, bedeutungslos oder klein anzusehen.
     
    Diese Art von Fröhlichkeit.
    Sie brach Kweku das Herz.
    Es war das dritte Mal, dass ihm das Herz brach, der sauberste Bruch, obwohl Kweku das nicht wissen konnte. Das Mädchen kam, das Handgelenk ihres Bruders umklammernd, der mit den Augen lächelte, eine kleine Lücke zwischen den Zähnen. Man verstand nicht ganz, warum sie ihn festhielt, als würde er sonst weglaufen – er wirkte so entzückt und gern bereit mitzukommen. Aber so war’s. Kweku sah die beiden und dachte an seine Schwester, an ihre großen, lachenden Augen. Spürte eine Enge in der Brust. Keine Trauer. So wie das Opfer einer Verbrennung dritten Grades, einer sehr kleinen, nichts von der darunter liegenden Infektion spürt. Aus dem gleichen Grund: massive Beschädigung der Nerven. Verlust der Empfindung. Der Schorf, eine schwarze Zementschicht über diesem Teil seiner Vergangenheit.
    Er konnte alles sehen, die Bilder liefen stumm in seinem Kopf ab: Dorfarzt, ältere Geschwister, meckerndes Zicklein, Abendsonne. Aber die Bilder waren wie Szenen aus einem Film mit einem längst verstorbenen Kinderstar, in körnigem Schwarz-Weiß gedreht, bevor sein Kameramann geboren wurde. Sie riefen kein Gefühl hervor. Oder jedenfalls keines, das er identifizieren konnte. Nur ein plötzlicher Anfall von Atemnot, den er auf die Hitze schob. Nicht auf Schmerz und Leid. Er spürte keinen »Schmerz«, wenn er sich an seine Kindheit erinnerte, was selten genug vorkam, auch damals, mit neunundvierzig, nachdem er zurückgekehrt war. Er näherte sich – zum Zentrum, zum Ausgangspunkt (identische Punkte) – Jamestown, eine Stunde von zu Hause entfernt. Spürte es aber gar nicht. In seinem Kopf bewegte er sich immer noch »vorwärts«, kam »weiter«, sein ganzes Leben eine gerade Linie, die vom Anfang ausging.
    Wenn ihm also irgendeine Erinnerung kam, ihn einholte, sich von hinter ihm nach vorn drängte, sich aufbauschte, wie Tumbleweed im Wind, dann fühlte er nur Distanz, unüberwindbare Distanz, zutiefst tröstliche Distanz, verbunden mit Ruhe. Eine Ruhe, die verstand, wie das war mit Verlust, dem Abschied auf dieser Welt, wie was wem widerfuhr, in welchen Mengen. Niemals Schmerz. Er rechnete nie alles zusammen – Verlust der Schwester, später der Mutter, abwesender Vater, Geißel des Kolonialismus, geboren in Armut und so weiter –, er klagte auch nicht, dass er ein trauriges Leben gehabt habe, ein unfaires, er schüttelte nicht die Faust gegen den Himmel und fragte warum. Niemals Wut. Er dachte einfach darüber nach, wo er herkam, was er durchgestanden hatte, seine sogenannte »Geschichte«, und kam zu dem Schluss, dass man das alles ruhig vergessen konnte. Er sah keine Notwendigkeit, sich zu erinnern, als wären die Einzelheiten nennenswert, als würde irgendjemand vergessen, was alles passiert war, wenn er es vergaß. Es würde einem anderen passieren, einer Million und einem anderen, die gleichen sinnlosen Verluste, die gleichen tränenlosen Schmerzen. Das war einer der Vorteile, wenn man arm in den Tropen aufwuchs.
    Niemand brauchte je die Details.
    Es gab einen elementaren Handlungsstrang, den jeder kannte, dazu die wenigen maßgeschneiderten Abschlüsse, die ab und zu jemand auswählen konnte. Elementar:
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher