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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Autoren: Taiye Selasi
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deutete die Gasse hinunter.
    »Ein Zimmermann?«, sagte der, auf den gedeutet worden war, und lachte laut. Dann rief er: »Der Zimmermann!«
    Eine alte Frau erschien.
    »Der alte Mann«, sagte sie, an den wenigen Zähnen saugend, die ihr noch geblieben waren. Eine Welle von stummen Jas erhob sich und schwappte über den Slum. »
Ja
. Der alte Mann, der beim Meer schläft.« »
Ja.
Der alte Mann, der in dem Baum schläft.« Wieder saugte sie an ihren Zähnen und fügte dann ungehalten noch etwas hinzu. »Der alte Mann«, sagte sie. »Holt den kleinen Jungen.«
    Ein Mädchen erschien.
    Sie hatte hinter der Frau gestanden, die so breit war, dass sie das Mädchen vollständig verdeckt hatte, samt den knubbeligen Zöpfen und Knien. Jetzt rannte die Kleine gehorsam los, noch ehe Kweku die naheliegenden Fragen stellen konnte, zum Beispiel, ob ein »alter Mann« die Antwort war oder warum er in einem Baum schlief oder was ein »kleiner Junge« damit zu tun hatte. Er nahm an, dass er das schon noch erfahren würde.
    Er lehnte sich an das Taxi, wischte sich das Gesicht, kreuzte die Füße. Es war zu heiß, um im Wagen zu warten, ohne Klimaanlage. Der Fahrer saß zufrieden da und aß frisch geräucherten Fisch, den Stolz von Jamestown, das Radio laut gestellt, Joy FM , es lief der Hit »Death for Life«, Reggie Rockstone, von dem jeder in Accra schwärmte.
     
    Keine sechzig Sekunden später kam das Mädchen zurückgerannt, das schmale Handgelenk eines Jungen umklammernd, der aussah, als wäre er ihr Bruder. Der Junge strahlte, erfüllt von dieser unbezähmbaren Fröhlichkeit, die Kweku nur von Kindern kannte, die in Äquatornähe lebten, in Armut: ein Instinkt, über die Welt zu lachen, so wie sie diese vorfanden, Dinge zu finden, über die sie lachen konnten, zu wissen, wo sie suchen mussten. Begeisterung über nichts und über alles, eine Freude, die unauslöschlich war, unerklärlich angesichts der gegebenen Umstände.
    Vergnügen
an
den Umständen.
    Er hatte diese Fröhlichkeit im Dorf gesehen, bei seinen Geschwistern, jedenfalls bei seiner jüngsten Schwester, mit elf gestorben, an unheilbarer TB . Damals war er noch jünger gewesen und hatte die Fröhlichkeit für Blödheit gehalten, für die positive Grundstimmung der Jüngsten. Eine Art Blindheit gegenüber der Realität. Um so oft so glücklich zu sein, in diesem Dorf, in den fünfziger Jahren, musste man schon blind oder taub sein, hatte er gedacht, doch er hatte sich geirrt. Seine Schwester sah so viel wie er, das begriff er in der Nacht, als sie starb, nachdem der einzige Dorfarzt (ein Sargschreiner) vorbeigekommen und wieder gegangen war, weil er getan hatte, was er konnte, vor dem Abendessen. Seine Mutter war zu einem Fetisch-Priester gegangen, mit einem weißen Zicklein (fairer Handel, klein für klein), und hatte die vier älteren Kinder zusammen draußen vor der Hütte zurückgelassen, die zwei Jüngsten drinnen. Ekua, seine Schwester, lag hustend auf der Seite, auf einer Bastmatte, ein Bündel aus Gliedmaßen, so knochig und dünn, wie ein winziger Scheiterhaufen aus Zweigen, und sie lachte »Was machst du da?«.
    Er kniete neben ihr, berührte ihren Nacken und fragte sich, wie dieses ganze Blut plötzlich aufhören konnte zu fließen, angeblich schon bald, wie es einfach seinen heißen Fluss einstellen würde. Das erschien ihm schlimmer als unplausibel. Ein grausamer Scherz, eine Lüge. »Du stirbst nicht«, sagte er, während er ihren Puls fühlte, mit seinen Fingern, mit der Lunge, ein Pulsieren im Bauch. Ekua war seine Verbündete, nur dreizehn Monate jünger, an einem Mittwoch geboren, genau wie er, mit dem gleichen ruhelosen Geist. Und ein Funkeln in ihren Augen und eine Lücke zwischen den Zähnen (die er bei Fola wiederfinden sollte, fünf Jahre später). »Du stirbst
nicht
.« Jetzt mit Überzeugung, denn er glaubte an das große Mysterium, dass das Blut einfach weiter gepumpt wurde, daran glaubte er mehr als an die zum Scheitern verurteilten Gebete der Dorfbewohner draußen oder an das Schlachten von Zicklein oder an die Prognosen von Quacksalbern. Er berührte Ekuas Gesicht und flüsterte: »Du stirbst nicht.«
    Sie flüsterte zurück, lächelnd, die Augen glitzernd: »Doch.«
    Und sie starb, mit einem Lächeln auf dem ausgemergelten Gesicht, ihre Hand in der ihres Bruders, seine andere Hand auf ihrem Nacken, mit großen lachenden Augen, die größer und kälter wurden, während er sie anstarrte und sah, dass sie durch diese Augen
gesehen
hatte.
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