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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Autoren: Taiye Selasi
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Baby, immer noch im selben Operationskittel, von der Blinddarm- OP im Beth Israel vor ein paar Tagen, und ihm war vollkommen klar, dass Eltern, die an der Plexiglasscheibe vorbeikamen, ihn für einen Obdachlosen halten könnten. Was ja auch passte. Die blutunterlaufenen Augen, die verfilzten Haare, der halb wahnsinnige Blick eines Besessenen. Er sah aus wie ein Irrer, ein Irrer im Arztkittel, der pleitegegangen ist, weil er unbedingt gewinnen wollte, trotz verschwindend geringer Chance. (Er konnte nicht ahnen, dass er eines Tages tatsächlich so werden würde: ein Verrückter, besessen, unrasiert, pleite, ausgelaugt.) Der Raum war dunkel, bis auf die Beleuchtung in den Brutkästen. Auf einem Stuhl wiegte er das Mädchen in seinem Schoß. Das Mädchen schlief schon länger als eine Stunde, aber er schaukelte weiter, zu erschöpft, um aufzustehen. Der Stuhl war zu klein, einer dieser winzigen Schaukelstühle aus Plastik, die Krankenhäuser in ihre Säuglingszimmer stellen, als wären sie für die Neugeborenen gedacht.
    Die irisch aussehende Krankenschwester mit dem Bauch und der Rosazea erschien in der Tür mit ihrem Klemmbrett und blieb stehen. »Sie schon wieder.« Sie lehnte sich an den Türrahmen. Lächelte stirnrunzelnd.
    »Ja, ich schon wieder.«
    »Nein, nein, bitte, bleiben Sie sitzen.«
    Sie betrat den Raum, ohne die Neondeckenbeleuchtung anzuknipsen. Netterweise ersparte sie ihnen beiden den plötzlichen Überfall durch das grelle Licht. Leise machte sie ihre Runde, kritzelte Notizen auf ihr Klemmbrett. Als sie zu dem kleinen Schaukelstuhl kam, schaute sie nach unten und musste lachen.
    Die Hand des Kindes, mit den fünf unendlich kleinen Fingern, hing an Kwekus Daumen, als wollten sie das Leben festhalten.
    »Sie müssen die Kleine wirklich sehr lieben«, sagte sie mit ihrem Bostoner Akzent. »Sie sind öfter hier als ich, ich schwör’s.«
    Kwaki lachte ganz leise, um das Baby nicht aufzuwecken. »Stimmt«, sagte er nur. »Es stimmt.«
    Es klang fast wie »Ich will«, und er musste an Baltimore denken, an seinen Hochzeitstag, eine Fola, jung, strahlend in ihrem Umstandskleid, in einer dämmrigen Kapelle mit niedriger Decke, rotem Teppich und Holzvertäfelung, er dachte an die erste Nacht nach der Hochzeit, Ginger Ale, Sektgläser aus Plastik. Woraufhin zwei andere Wörter wie kleine Bläschen zur Oberfläche seines Denkens aufstiegen. Und platzten.
Zu früh
. Hatten sie zu früh geheiratet? Waren sie zu früh Eltern geworden? Wenn ja – was hatte es zu bedeuten? Dass es keine »wahre Liebe« war?
    Die Krankenschwester, immer noch in Boston, machte die Lampe im Brutkasten aus. Kweku, noch in Baltimore, schloss die Augen, schaukelte vor und zurück. »Aber ich liebe sie wirklich sehr.« Die Schwester hörte es nicht. Sie überprüfte das Schild am Brutkasten. Baby Sai. Kein Vorname.
    »Wie heißt sie?«, fragte die Schwester ihn, den Stift gezückt.
    »Folasadé«, murmelte Kweku, zu müde, um nachzudenken.
    »Sehr hübsch. Wie schreibt man das?«
    Ohne die Augen zu öffnen. »F-o-l-a-s-a-d-e.«
     
    Er begriff gar nicht, was die Schwester eigentlich gefragt hatte – bis zu der Verwirrung bei der Entlassung. »Keine Idowu Sai.« Eine andere Schwester jetzt, die gereizt ihren Kaugummi schmatzte, knallte die Akte auf die Theke und deutete darauf. Acryl-Fingernägel. Kweku nahm die Akte, um nachzusehen, was da stand.
Vorname: Folasade. Nachname: Sai.
Die Schwester lächelte herablassend, fabrizierte eine Kaugummiblase, ließ sie platzen.
    »Fola-say-dee Sai. Ist das Ihr Kind? Fola-say-dee?«

Fünf
    Das letzte Mal , dass er sich so gefühlt hat, war bei »Say-dee«. Dieses Gefühl einer Offenbarung, die gleiche beunruhigende Erkenntnis, dass er etwas falsch verstanden hat, dass etwas, das er schon unzählige Male angeschaut und als unbedeutend, vernachlässigbar abgetan hat, in Wirklichkeit schön ist und schon immer schön war. Wieso ist ihm das bisher entgangen? Das gerade-erst-geborene Baby, das gerade-erst-atmende Neugeborene, die Fäuste geballt voller Hoffnung, kein bizarrer Anblick, auch kein Alien, was er früher bei Neugeborenen immer gedacht hat (auch bei Olu, Taiwo und Kehinde), sondern wundervoll, jede Mühe wert. Gleichzeitig Bestürzung. Eine plötzliche Enge in der Brust, auf der linken Seite, wo er das Sterben und andere wachsende Kräfte spürt. Nicht: War-blind, doch-jetzt-kann-ich-sehen, Chor der Engel, Halleluja. Eher: Aber-wohin-führt-das-alles, eine durchdringende, eine schrille
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