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Die zweite Nacht

Die zweite Nacht

Titel: Die zweite Nacht
Autoren: Natalie Rabengut
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beschleunigt und ich suchte nach einer Floskel in meinem Kopf, die für diese Situation geeignet war. Leider fielen mir nur Schimpfworte ein.  
    Für mich, nicht ihn – er konnte ja nichts dafür. Gut, er hätte sich vielleicht räuspern können, stattdessen schien er einfach erstarrt zu sein und bemühte sich krampfhaft, weder auf meinen BH noch meinen Busen zu glotzen. Sein Blick hatte sich auf mein Gesicht geheftet und ich bedauerte, dass er so weit im Schatten stand. Ich konnte lediglich erkennen, dass er ein gut geschnittenes Gesicht mit ausgeprägtem Kinn und helle Haare hatte.
    Die Sekunden dehnten sich aus und noch immer hatte keiner von uns nur einen Ton gesagt. Weil mir schlicht nichts Besseres einfiel, wedelte ich mit den Armen und flüsterte leise: »Du hast nichts gesehen! Du hast nichts gesehen!«
    Dann raffte ich den Saum meines Kleides hoch und ergriff die Flucht. Nie in meinem Leben war ich so froh gewesen, dass ich meinen Hintern jeden zweiten Tag nach draußen schleifte, um laufen zu gehen.  
    Während ich mehrere Stufen auf einmal nahm, jagte ich die Treppe nach oben. Meine Finger zitterten leicht, als ich den Schlüssel aus meiner Tasche holte und ins Schloss steckte. Drinnen verriegelte ich die Tür, ließ mich dagegen sinken und schnappte erleichtert nach Luft.
    Meine Mundwinkel zuckten bereits und ich musste grinsen. Du hast nichts gesehen ? Kopfschüttelnd stellte ich die Schuhe an die Garderobe und legte meine Tasche und den BH auf den Wohnzimmertisch. Endlich zuhause.
    Die Hände hinter dem Kopf verschränkt lag ich auf der Couch und genoss die Stille. Der 10. September neigte sich dem Ende zu und die Hochzeit war überstanden. Zufrieden schloss ich die Augen. Nach dem Tag in dem für mich unüblichen Kleid und dem quälenden BH fühlte ich mich schon beinahe frei. Den winzigen String, passend zum BH – also hübsch anzusehen und unbequem – war ich auch losgeworden, bevor ich mich auf die Couch gelegt hatte. Morgen würde ich meine übliche Routine aufnehmen und meinen Seelenfrieden zurückerobern.  
    Sollte mein Bruder Mo dazu breitschlagen, ihn zu heiraten, würde ich die beiden verschwinden lassen. Mein Hochzeitsbedarf war für das gesamte nächste Jahr gedeckt – vermutlich eher länger.
    Nachdem ich eine Weile vor mich hin geträumt hatte, tastete ich auf dem Wohnzimmertisch nach meinem Handy. Ich hatte mir angewöhnt, meine To-Do-Liste ebenfalls dort zu speichern.  
    Mal sehen, was ich mir vorgenommen hatte; ein neues Buch schreiben oder vielleicht doch ein neues Buch schreiben? Manchmal wusste ich selbst nicht, wozu ich die Liste eigentlich hatte. Viel Abwechslung gab es in meinem Leben ohnehin nicht.
    Träge blätterte ich durch das Dokument: Schreiben, Emails beantworten – nichts Besonderes. Dann fluchte ich. Die verdammte Umsatzsteuervoranmeldung war fällig. Schon wieder. Genervt sah ich auf den Kalender, am zehnten musste ich sie spätestens einreichen. Ich erstarrte. Vor lauter Hochzeitsstress hatte ich es vergessen und heute war der zehnte! Mein Blick flog zur Uhr, kurz nach elf. Es war Freitag, Karl würde wohl noch wach sein.
    Mein durch und durch sympathischer Nachbar Karl, mit dem ich mir das Stockwerk teilte, ließ mich jeden Monat seine alte Möhre benutzen, die er als Computer bezeichnete, um die blöde Voranmeldung einzureichen. Ich arbeitete auf einem Mac und bekam immer nur die absolut überflüssige   Fehlermeldung, dass ich nicht das nötige Plug-in besaß und dringend ein Update durchführen sollte. Dass ich genau das regelmäßig machte, war vollkommen irrelevant; ich hatte zwar die richtige Software in der richtigen Version und trotzdem reagierte die Seite des Finanzamtes nicht, wenn ich den verzweifelten Versuch unternahm, mich anzumelden.
    Ich versuchte, mich aufzuraffen. Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich mich noch einmal in den BH zwängen sollte. Aber das konnte ich mir sparen. Karl war ein charmanter Zeitgenosse, der stets einen Zweiteiler aus Ballonseide trug und eine ausgewachsene Vorliebe für Thailänderinnen hatte. Er bevorzugte sie aufgrund ihrer zierlichen Statur und der kleinen Brüste – seine Worte, nicht meine. Bei unserer ersten Begegnung hatte er mir hemmungslos auf den Busen gestarrt und dann verächtlich den Kopf geschüttelt.
    Warum auch immer; daraufhin hatte ich ihn ins Herz geschlossen, weil er partout nicht mit mir ins Bett wollte. Das erleichterte mein Leben ungemein. Karl verschlief in der Regel den Tag und
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