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Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
Autoren: Marc Levy
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nicht um, aber an dem Tisch hinter Ihnen sitzt eine alte Dame. Warten Sie, stehen Sie auf, wenn Sie wollen, tauschen wir ganz unauffällig den Platz.«
    Alice tat, wie geheißen, und setzte sich auf Daldrys Stuhl.
    »Jetzt, wo Sie Ihnen gegenübersitzt«, sagte er, »betrachten Sie sie aufmerksam und sagen Sie mir, was Sie sehen.«
    »Eine Frau in einem gewissen Alter, die allein frühstückt. Sie ist gut gekleidet und trägt einen Hut.«
    »Seien Sie aufmerksamer, was sehen Sie noch?«
    Alice beobachtete die alte Dame.
    »Nichts Besonderes, sie wischt sich den Mund mit der Serviette ab. Sagen Sie mir lieber, was ich nicht sehe, sonst wird sie mich noch bemerken.«
    »Sie ist geschminkt, nicht wahr? Sehr leicht, aber ihre Wangen sind gepudert, die Wimpern getuscht, und sie hat etwas Lippenstift aufgelegt.«
    »Ja, ich glaube schon.«
    »Sehen Sie sich jetzt ihre Lippen an, bewegen sie sich?«
    »Ja, tatsächlich«, erwiderte Alice erstaunt. »Sie bewegt sie ein wenig, wahrscheinlich ein Alterstick.«
    »Ganz und gar nicht! Diese Frau ist Witwe und unterhält sich mit ihrem verstorbenen Mann. Sie frühstückt nicht allein, sie spricht mit ihm, als säße er ihr gegenüber. Sie hat sich für ihn schön gemacht, weil er noch immer Teil ihres Lebens ist. Sie stellt ihn sich an ihrer Seite vor. Ist das nicht rührend? Können Sie ermessen, welcher Gefühle es bedarf, um sich ständig die Anwesenheit des geliebten Wesens vorzustellen? Diese Frau hat recht, denn wenn der Partner auch gegangen ist, hört er darum doch nicht auf zu existieren. Mit etwas Fantasie und Herz gibt es keine Einsamkeit. Später, beim Bezahlen wird sie den Teller mit dem Geld auf die andere Seite des Tischs schieben, weil es stets ihr Mann war, der die Rechnung beglichen hat. Wenn sie den Pub verlassen hat, wird sie auf dem Bürgersteig kurz warten, ehe sie die Straße überquert, weil ihr Mann, wie es sich gehört, immer als Erster ging. Ich bin sicher, dass sie jeden Abend vor dem Schlafengehen mit ihm spricht und ihm jeden Morgen einen schönen Tag wünscht, wo auch immer er sein mag.«
    »Und all das haben Sie innerhalb weniger Augenblicke bemerkt?«
    Während Daldry Alice zulächelte, betrat ein alter, schlecht gekleideter und angetrunkener Mann das Restaurant, ging zu der Dame am Nachbartisch und gab ihr zu verstehen, dass es Zeit zum Aufbruch war. Sie bezahlte, erhob sich und folgte dem Trunkenbold, der sicher von der Rennbahn zurückkam, nach draußen.
    Daldry wandte der Szene den Rücken zu und hatte nichts gesehen.
    »Sie haben recht«, sagte Alice. »Die alte Dame tut genau das, was Sie vorhergesagt haben. Sie hat den Teller auf die andere Seite geschoben, und als sie das Restaurant verlassen hat, meine ich fast gesehen zu haben, dass sie sich bei einem unsichtbaren Mann bedankte, der ihr die Tür aufhielt.«
    Daldry schien glücklich. Er aß einen Löffel Porridge, wischte sich den Mund ab und sah Alice an.
    »Und der Porridge? Köstlich, nicht wahr?«
    »Glauben Sie an Hellseherei?«
    »Wie bitte?«
    »Glauben Sie, dass jemand die Zukunft vorhersagen kann?«
    »Das ist eine komplexe Frage«, meinte Daldry und machte der Kellnerin ein Zeichen, ihm noch Porridge aufzugeben. »Die Zukunft wäre also schon irgendwo festgeschrieben? Das wäre doch dumm, nicht wahr? Und die freie Entscheidung des Einzelnen? Ich glaube, Hellseher sind nur Menschen, die Intuition haben. Lassen wir die Scharlatane beiseite und gewähren wir den ernsthaften eine gewisse Glaubwürdigkeit. Verfügen sie über eine Gabe, die es ihnen ermöglicht zu sehen, was unsere Ziele sind, was wir früher oder später tun werden? Warum eigentlich nicht? Nehmen wir das Beispiel meines Vaters: Seine Augen sind bestens, und doch ist er blind, meine Mutter hingegen ist kurzsichtig wie ein Maulwurf und bemerkt so viele Dinge, die ihr Mann nie wahrnehmen könnte. Sie wusste seit meiner frühesten Kindheit, dass ich Maler werden würde, und sie hat es mir oft gesagt. Sie glaubte allerdings auch, meine Bilder würden in den größten Museen der Welt ausgestellt. Ich habe in den letzten fünf Jahren nicht ein Bild verkauft – so ist es eben, ich bin ein erbärmlicher Künstler. Aber ich spreche von mir und beantworte nicht Ihre Frage. Warum haben Sie sie mir übrigens gestellt?«
    »Weil mir gestern etwas Eigenartiges geschehen ist, und ich hätte vorher nie vermutet, dass ich einem solchen Zwischenfall die geringste Aufmerksamkeit schenken würde. Aber seither beherrscht mich diese
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